Das Bild zeigt die Musikerin Evelyn Glennie. Sie holt gerade zu einem Schlag auf das vor ihr stehende Schlagzeug aus, in jeder Hand hält sie zwei Schlagzeugsticks.

Gehörlos

Percussionistin Evelyn Glennie

Sie versetzt mit ihrer Musik die Menschen ins Staunen, hat zahlreiche Preise eingeheimst und spielt mit den berühmtesten Orchestern der Welt. Wer Evelyn Glennie am Schlagzeug sieht und hört, mag es kaum glauben: Die schottische Percussionistin ist nahezu gehörlos.

Von Annette Holtmeyer und Britta Schwanenberg

Gehörlosigkeit ist kein Handicap

Evelyn Glennie nutzt ihren Körper als Resonanzraum: Sie lässt sich vom Klang berühren, anstatt ihn zu hören. Die Behinderung als Handicap zu sehen, kommt für Evelyn Glennie nicht Frage. Die Schwerhörigkeit ist für sie lediglich die Grundlage für ihren einzigartigen Zugang zur Musik: Evelyn Glennie hat gelernt, einzelne Töne über ihre Schwingungen zu unterscheiden.

Meist musiziert sie barfuß. "Ich höre mit meinen Augen, Ohren, meinem Körper", sagt die Musikerin. Die Geräusche ihrer Umgebung erlebt sie ebenfalls über die Vibrationen, die sie auslösen. Und so versetzt auch die Musikerin selbst die verschiedensten Alltagsgegenstände und Fundstücke in klangvolle Bewegung.

In vielen Interviews setzt sie sich für eine bessere Musikförderung von Hörgeschädigten und Gehörlosen ein. In Workshops vermittelt sie hörgeschädigten Kindern, was es bedeutet, "den Klang zu berühren".

Auf die Frage eines Reporters, ob eine Operation sie nicht heilen könnte, sagte sie einmal: "Es wäre möglich, aber ich würde es zu diesem Zeitpunkt nicht tun. Nach so langem Taubsein müsste ich mich völlig umstellen. Außerdem vermisse ich nichts. Ich bin glücklich, wie ich bin."

Berufswunsch: Solomusikerin

Evelyn Glennie wurde 1965 nahe dem schottischen Aberdeen geboren. Mit ihren zwei Brüdern wuchs sie auf einer Farm auf. Mit zwölf Jahren begann sie Snare Drum zu spielen, mit wachsender Begeisterung. Schnell stand ihr Berufstraum fest: Sie wollte professionelle Musikerin werden.

Gleichzeitig verschlechterte sich aufgrund einer Nervenkrankheit ihr Hörvermögen. Kurze Zeit später war sie zu 80 Prozent taub. Ihrer Leidenschaft für die Musik tat das aber keinen Abbruch: Mit ihrem Schlagzeuglehrer übte sie, die Vibrationen der Töne zu erfühlen und zu unterscheiden.

Das Bild zeigt eine junge Frau mit langen Haaren und Zopf. Sie sitzt hinter einem Schlagzeug, hinter ihr sind viele Cellisten zu sehen. Sie schaut zur Seite.

Glennie fühlt den Klang ihres Schlagzeuges

Mit ihrer ersten CD-Einspielung, dem Bartók-Konzert "Sonate für zwei Klaviere und Percussion" unter Sir Georg Solti gewann sie bereits 1988 einen Grammy. Danach spielte sie mit weltberühmten Orchestern und produzierte etliche CDs.

Sie trat als Solokünstlerin bei den bekannten BBC-Konzerten "Night of the Proms" auf und reiste durch die ganze Welt, um neue Klanginstrumente kennenzulernen und zu erstehen. Sie arbeitete mit japanischen Kodotrommlern, brasilianischen Sambagruppen und der isländischen Popkünstlerin Björk.

Zwischen den Tourneen und ihren Reisen tüftelt sie in ihrem Tonstudio bei London an neuen Klängen und baut viele Fundstücke zu Instrumenten um. Außerdem arbeitet Glennie als Dozentin und Pädagogin.

"Touch the Sound " – auf den Spuren von Evelyn Glennie

Nicht nur auf Fans und Kritiker übt Evelyn Glennie eine ungeheure Anziehung aus, sondern auch auf den Dokumentarfilmer Thomas Riedelsheimer, der einen Film über die Musikerin gedreht hat: Ein Jahr lang begab er sich auf ihre Spuren.

Der Film ist vor allem eine Klangreise: Die Behinderung oder der Alltag der Künstlerin werden nur am Rande gezeigt. Riedelsheimer begleitete Evelyn Glennie nach Japan, New York, Kalifornien und in ihre Heimat Schottland.

Evelyn Glennie und Fred Firth stehen hinter einer Reihe Percussion-Instrumente. Sie trägt einen Zopf und hält sich zwei längliche Röhren wie ein Fernglas vor die Augen. Er hat eine E-Gitarre umgeschnallt. Beide lächeln.

Evelyn Glennie mit Fred Firth in "Touch the Sound "

Das Gerüst seines Filmes bildet eine Klangsession in einer alten Industriehalle, in der Glennie und Fred Frith – ein Altmeister der Avantgardemusik – gemeinsam frei improvisieren. Der Titel "Touch the Sound" scheint auch für den Dokumentarfilmer Programm gewesen zu sein: Aus Sicht der von ihm geführten Kamera erschließt sich die Welt als großer Klangkörper, in der Straßenlärm und Gesprächsfetzen eins werden mit den Klängen der Musik.

(Erstveröffentlichung 2005. Letzte Aktualisierung 16.07.2019)

Quelle: WDR

Darstellung: