Interview mit Gerhard Trabert

Planet Wissen 16.05.2023 06:10 Min. Verfügbar bis 07.04.2026 SWR

Armut in Deutschland

Interview mit dem Arzt Gerhard Trabert

Gerhard Trabert ist ein Arzt, der auf die Menschen zukommt. Und zwar buchstäblich: Mit seiner fahrbaren Ambulanz, dem Arztmobil, fährt er zu Wohnungslosen auf die Straße, wo die Not am größten ist. Was ihn bewegt und was er noch alles ins Rollen bringt, darüber haben wir mit ihm gesprochen.

Von Claudia Heidenfelder und Andrea Wengel

Planet Wissen: Herr Trabert, wie sind Sie auf die Idee für das "Arztmobil" gekommen?

Gerhard Trabert: Die Ursprungsidee entwickelte sich, als ich in Indien als Arzt in einem Leprahospital tätig war. Die dortigen Ärzte machten die langwierigen Medikamenten-Behandlungen der Leprapatienten direkt in den jeweiligen Dörfern.

Dass der Arzt zu den Patienten kommt und nicht umgekehrt, erhöhte deutlich den Erfolg der Therapie. Außerdem reifte in Indien mein Entschluss, erst einmal in meiner Heimat Deutschland zu schauen, ob es nicht auch dort Armut gibt, statt mich im Ausland zu engagieren.

Mittlerweile kümmern wir uns aber auch um arme und bedrohte Menschen in Krisenregionen im Ausland. Die Hilfe vor Ort ist ein erster Schritt, der dafür sorgt, dass diese Menschen nicht flüchten müssen, um zu überleben, um auch würdevoller leben zu dürfen.

Wie schwierig war es, das Projekt Arztmobil in Deutschland durchzusetzen?

Es war jedenfalls nicht leicht: In Deutschland durften damals nur "niedergelassene" Ärzte tätig sein, "fahrende" Ärzte hingegen waren verboten. Darum musste ich erst die Kassenärztliche Vereinigung und andere Stellen für die Idee gewinnen, was letztendlich rund ein Jahr dauerte.

Als das geschafft war, durfte ich als erster Arzt in Deutschland mit einer besonderen Ermächtigung "umherziehend" meinen Beruf ausüben und konnte wohnungslose Menschen auf der Straße aufsuchen und behandeln.

Im Mai 2013 hat der Verein Armut und Gesundheit in Deutschland eine Poliklinik eröffnet. Was war der Anlass für dieses neue Projekt?

Mit der Einrichtung dieser Poliklinik wollen wir noch mehr Patienten in schwierigen Lebenslagen unterstützen. Denn zunehmend bitten uns Menschen um medizinische Hilfe, die nicht wohnungslos sind. Häufig sind sie nicht krankenversichert, weil ihnen der Zugang zu einer Krankenkasse finanziell nicht möglich ist, rechtliche Versorgungslücken bestehen oder auch, weil sie die zu hohen Beiträge nicht zahlen konnten.

Dies liegt nicht zuletzt auch an einer unzureichenden Beratung der Kassen selbst. Denn es gibt Beitragsreduzierungsmöglichkeiten, über die die Beitragszahler, so unserer Erfahrungen, nicht informiert werden.

Zudem sind viele unserer Patienten mit den hohen Zuzahlungen für Medikamente oder mit den Eigenbeteiligungen bei der Zahnbehandlung, oder auch der Selbstfinanzierung, zum Beispiel von Brillen, überfordert.

Es kommen einfach immer mehr Menschen, die sich die ganz normale Gesundheitsversorgung nicht mehr leisten können. Um ihnen zu helfen, haben wir jetzt Praxisräume auf der Zitadelle in Mainz gemietet und bieten dort medizinische Versorgung und fachärztliche sowie psychosoziale Beratung an.

Wie finanziert sich die Poliklinik?

Ausschließlich durch Spenden an den Träger der Poliklinik, den Verein "Armut und Gesundheit in Deutschland". Viele Fachkräfte engagieren sich ehrenamtlich, oft sind es pensionierte Ärztinnen und Ärzte, die sich dafür Zeit nehmen. Zudem haben wir festangestelltes Personal, unter anderem Sozialarbeiterinnen und Krankenschwestern.

Einen Teil unserer Medikamente stellen Arztkollegen und Apotheker zur Verfügung. Häufig müssen wir allerdings die Medikamente selbst kaufen und bezahlen. Hierbei kooperieren wir mit der Organisation "Apotheker ohne Grenzen". Der Großteil unserer medizinischen Einrichtung, wie ein EKG-Gerät, Ultraschallgerät und ein Zahnarztstuhl, sind Spenden.

Wie hat sich das Problem Armut und Obdachlosigkeit in den Jahren seit Gründung der Poliklinik entwickelt – hat sich die Lage verbessert oder weiter verschärft?

Die Lage hat sich weiter verschärft. Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, steigt. Ein Grund liegt in den administrativen Hürden der Bürokratie, die zugenommen haben. Oft habe ich den Eindruck, dass dies gewollt ist.

Neben wohnungslosen Patienten kommen zunehmend Empfänger von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld zu uns. Viele können die Eigenbeiträge für die medizinische Versorgung nicht mehr zahlen. Es gibt zunehmend Privatversicherte, die in eine Insolvenz geraten sind und deswegen ihre hohen Krankenkassenbeiträge nicht mehr zahlen können.

Wir haben legale Einwanderer aus Osteuropa, die keinen Job haben und somit auch keiner Krankenversicherung angehören beziehungsweise unwissentlich "Schwarzarbeit" leisten, da sie ausgenutzt und benutzt werden. Asylbewerber haben nur einen eingeschränkten Krankenschutz, dies bedeutet, dass sie Kassenleistungen nur für akute Erkrankungen und Schmerzzustände beziehen können.

Aber was heißt dies bezüglich der Behandlungsnotwendigkeit chronischer Erkrankungen, wenn diese eben nicht kontinuierlich behandelt werden dürfen? Diese Bestimmung ist in meinen Augen eine Menschenrechtsverletzung, staatlich legitimiert!

Gerhard Trabert mit Dennis Wilms im Planet Wissen Studio

Gerhard Trabert mit Dennis Wilms im Planet Wissen Studio

Sind arme Menschen in Deutschland stärker von Krankheit betroffen als wohlhabende?

Ja, es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit. Arm und damit sozial benachteiligt zu sein, ist mit einer deutlich erhöhten Erkrankungsquote kombiniert. Armut führt zu Krankheit, aber zunehmend führt Krankheit auch zu Armut.

Mittlerweile ist Krankheit der dritthäufigste Grund für eine Verschuldung. Die zahlreichen Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen machen sich bemerkbar. Auch führen Krankheiten teilweise zu gravierenden Leistungseinbußen der Betroffenen und damit zu Einkommensverlusten. All das sind Gründe für diese fatale Entwicklung.

Um welche Krankheiten handelt es sich vor allem?

Besonders Herz-Kreislauf-Krankheiten, psychische Erkrankungen, Krankheiten der Atemwege und der Verdauungsorgane. Aber auch Infekte und Hauterkrankungen treten bei sozial benachteiligten Menschen gehäuft auf.

Im Grunde kommen alle Erkrankungen bei von Armut betroffenen Menschen häufiger vor. Eine große Rolle spielen psychische Erkrankungen wie Depressionen, denn Armut bedeutet verstärkt psychischen Stress.

Was bedeutet das für die Lebenserwartung?

Die Lebensweise armer Menschen in unserer Gesellschaft ist verbunden mit Entwertungsprozessen, und das wiederum führt zu gravierenden Identitätskrisen. In der Folge kommt es zu einer erhöhten Selbstmordrate. Sie liegt bei Langzeiterwerbslosen um bis zu 20 Prozent höher als bei Erwerbstätigen.

Von Armut betroffene Menschen sind also nicht nur kränker, sie sterben auch deutlich früher. Das ist ein Skandal, der in der Öffentlichkeit immer noch zu wenig wahrgenommen wird und den weite Teile der Politik einfach ignorieren. Bei armen Frauen ist die Lebenserwartung um durchschnittlich acht Jahre geringer, bei armen Männern sogar um elf Jahre. Nur 30 Prozent der von Armut betroffenen Männer erreichen das 65. Lebensjahr!

Wie sterben diese Menschen, die in der Regel keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung und oft nicht mal ein Dach über dem Kopf haben? 

Es ist immer noch so, dass in über 30 Prozent der Fälle die Menschen auf der Straße sterben. Der Umgang mit kranken und sterbenden Wohnungslosen stellt für die Einrichtungen zunehmend ein Problem dar.

In einem Wohnheim in Mainz hat es unser Verein in Kooperation mit dem Träger des Wohnheimes geschafft, ein Konzept zu entwickeln, das es den Bewohnern ermöglicht, dort im Kreise vertrauter Personen in Würde sterben zu können.

Wie sieht dieses Konzept aus?

Wir haben dort seit 20 Jahren eine wöchentliche ärztliche Sprechstunde, gemeinsam mit einer Krankenschwester, die die sehr wichtige krankenpflegerische Versorgung übernimmt. Da dieser Versorgungsbedarf immer umfangreicher geworden ist, ist die Krankenschwester mittlerweile fünf Tage vor Ort, teilweise auch am Wochenende, um die Patienten zu versorgen.

Das Wohnheim hat sie als Teil des Betreuungsteams fest angestellt. Gemeinsam versorgen wir die schwer kranken und sterbenden Menschen medizinisch. Zudem gibt es in Mainz ein Hospiz und einen ambulanten Hospizdienst, mit dem unser Verein sowie dieses Wohnheim, kooperieren. Damit konnten wir eine fachkompetente Unterstützung für die Versorgung wohnungsloser sterbender Menschen realisieren.

Worauf kommt es außerdem an, um den Obdachlosen ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen?

Es ist wichtig, dass sie dort, wo sie die letzten Jahre gelebt haben, wo Kumpels und Freunde sind, sterben dürfen. Damit können auch ihre Bezugspersonen von den Sterbenden würdevoll Abschied nehmen. Gerade unter den wohnungslosen Menschen besteht eine hohe gegenseitige Empathie. Sterben in Würde und weitestgehender Selbstbestimmung ist ein wichtiges Gut in unserer Gesellschaft.

Leider wird das Problem in Deutschland viel zu wenig angegangen. Die Menschen werden noch viel zu häufig ins Krankenhaus oder Altenheim abgeschoben, weil man sich überfordert fühlt.

Sehen Sie einen Lichtstreifen am Horizont, dass von offizieller Seite gegen Armut und Obdachlosigkeit in Deutschland in Zukunft mehr getan wird?

Nein! Wir haben einen Trend, dass immer mehr individualisiert wird. Die Menschen müssen sich selbst um ihre Belange kümmern, was dazu führt, dass sie auch in Notlagen auf sich alleine gestellt sind, alleine gelassen werden.

Zudem sind die Entscheidungsträger so weit von der harten Lebensrealität von Armut betroffener Menschen entfernt, dass ihre Entscheidungen und Maßnahmen denen, die ganz unten sind, nicht hilft. Da muss sich etwas im Bewusstsein fundamental ändern!

Was sollte von offizieller Seite Ihrer Meinung nach konkret getan werden?

Es muss generell sensibler und respektvoller über das Phänomen Armut und mit von Armut betroffenen Menschen gesprochen werden. Wir fordern die Wiedereinsetzung der Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit beim Gesundheitsministerium.

Die gab es in der Vergangenheit. Da wurden bestimmte Themen wie Obdachlosigkeit oder Kinderarmut und deren Bedeutung für die Gesundheit diskutiert, Versorgungsdefizite aufgezeigt und Lösungs-, also Verbesserungsinitiativen, ausgearbeitet und auch realisiert.

Anwesend waren Vertreter verschiedener Ministerien und Verbände, wie Sozialverbände und Pflegeverbände – also auch die Fachkräfte, die vor Ort an der Basis wirken. Somit konnten die Probleme erkannt und sehr konkret und zielführend angegangen werden.

Leider wurde diese AG abgeschafft, sie war politisch nicht mehr gewollt! Doch wir sehen heute, dass sie dringend wieder nötig wäre, wenn wir die Situation armer und obdachloser Menschen in Deutschland endlich wieder verbessern und die Entscheidungsträger für notwendige strukturelle Veränderungen sensibilisieren wollen.

Quelle: SWR | Stand: 19.04.2019, 12:00 Uhr

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