Menschen stehen an einer offenen Gruft.

Madagaskar

Leichenwendfest auf Madagaskar

Die Madagassen öffnen alle paar Jahre die Gräber ihrer Vorfahren und holen deren Knochen hervor. Dann wird "Famadihana" gefeiert. Nach dem Fest werden die Reste der Ahnen in frische Leinentücher eingeschlagen und erneut bestattet.

Von Christine Buth

Neue Kleider für die Ahnen

"Razana" heißen die Ahnen auf Madagaskar. Sie sind genauso Teil einer Familie wie die Lebenden. Wer die Ahnen achtet, dem wird es gut gehen. Die Verstorbenen sind wichtig für das Familiengefühl. Und sie haben eine besondere Fähigkeit: Nur sie können zu Gott sprechen. Damit nehmen sie eine wichtige Vermittlerrolle ein. Die Ahnen zu verärgern, kann Unglück herbeiführen und der ganzen Familie schaden.

Die Familie mitsamt den Ahnen hat überall auf Madagaskar einen sehr hohen Stellenwert. Den Toten Respekt zu erweisen, indem man sie neu einkleidet, ist aber nur bei zwei Volksgruppen Brauch: den Merina und den Betsileo. Zwischen Juni und September findet das Ritual im Hochland zwischen der Hauptstadt Antanarivo und dem südlicheren Ambositra statt.

Auf Madagaskar werden die Toten nicht in der Erde bestattet, sondern in einer Familiengruft, die sehr aufwändig hergerichtet sein kann. In welchen Abständen eine Gruft geöffnet wird, um eine Famadihana zu feiern – dafür gibt es keine starren Regeln. Bisweilen bestimmen die Ahnen selbst den Termin, indem sie einem Angehörigen frierend im Traum erscheinen.

Meistens wird jedoch ein "Ombiasy", ein madagassischer Heiler, damit betraut, Kontakt mit den Ahnen aufzunehmen und den richtigen Zeitpunkt zu ermitteln. Das Fest findet gewöhnlich alle drei bis sieben Jahre statt, zu kurz dürfen die Abstände nicht sein, weil eine Famadihana aufwändig und sehr kostspielig ist.

Das große Fest

Die Vorbereitungen für eine Famadihana beginnen meist schon ein bis zwei Jahre vorher. Die ganze Familie muss sparen, um die Feier bezahlen zu können. Kurz vorher wird die Gruft gereinigt und bemalt, Tiere werden geschlachtet und ungeheure Mengen Reis und andere Mahlzeiten zubereitet. Während der Famadihana sollen alle Familienmitglieder und die eingeladenen Freunde und Nachbarn so viel essen können, wie sie mögen.

Wenn die Gruft schließlich geöffnet wird, werden die Lebenden und die Toten einander vorgestellt. Es wird gelacht und geweint – ganz so wie bei einer europäischen Familienzusammenkunft – nur eben auf dem Friedhof. Dann werden die Särge der Toten herumgetragen, es wird gesungen und getanzt.

Die Feier kann mehrere Tage dauern. Außer gutem Essen gibt es meist auch reichlich Alkohol: Toaka Gasy, einen selbstgebrauten Rum. Ausländer sind vielen feiernden Familien bei ihrem Freudenfest willkommen, müssen dann aber mittrinken und vor allem: mittanzen.

Viele fröhliche Menschen tragen Särge durch eine Stadt.

Alle sind eingeladen

Feiern hält die Familie zusammen

Etwa 40 Prozent der Menschen auf Madagaskar sind getaufte Christen, mehr als 50 Prozent folgen den alten Religionen. Die Famadihana feiern Menschen beider Gruppen, obwohl das Fest den Kirchen ein Dorn im Auge ist.

Aber die Feier hat nicht nur eine religiöse, sondern vor allem eine gesellschaftliche Bedeutung. Weil die ganze Familie zu diesem Anlass zusammenkommt – auch Mitglieder, die schon lange weit weg wohnen – ist das Fest eine Gelegenheit, Neuigkeiten auszutauschen und alte Bande weiterzuknüpfen. Das Fest mit den Verstorbenen hält die ganze Familie zusammen.

(Erstveröffentlichung 2010. Letzte Aktualisierung 16.04.2019)

Quelle: WDR

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