Die Gotthardpassstrasse schlängelt sich den Berg hinauf.

Tessin

Gotthardpass

Der Gotthard ist mehr als nur ein Berg, es ist ein Bergmassiv, bestehend aus mehreren Pässen. Der wichtigste ist der 2106 Meter hohe St. Gotthardpass. Aber auch der Lukmanierpass (1984 Meter) und der Furkapass (2431 Meter) gehören zum Gotthardmassiv.

Von Ulrich Neumann und Cordula Weinzierl

Die "Mitte Europas"

Der Gotthard hat schon immer eine symbolische Bedeutung gehabt. Unzählige Fabeln, Sagen, Märchen und Legenden spielen hier und haben aus dem Gebirge einen Mythos gemacht.

"Die Idee des Gotthards als Keimzelle, aus der die Schweiz emporgewachsen sei, gehörte früh in dieses System der politischen Mythologie", schreibt der Schweizer Journalist Helmut Stalder in seinem Buch "Mythos Gotthard".

Der Gotthard, so hat es Helmut Stalder in der Schule gelernt, das sei die Mitte der Schweiz, ja mehr noch: die Mitte Europas. Der Gotthard ist nicht nur die Klima-, sondern auch die Wasserscheide. Hier entspringen neben der Reuss und dem Ticino auch die Rhône, die ins Mittelmeer mündet, und der Rhein, der zur Nordsee fließt.

Der Saumpfad über den St. Gotthard

Bereits die Römer kannten den Gotthard. Sie nannten ihn Adula Mons, der steile Berg, oder Mons Tremolar, der zitternde Berg. Römische Münzfunde und der Goldschatz von Erstfeld, der aus der Latène-Zeit um 300 v. Chr. stammt und zu den wichtigsten Zeugnissen keltischer Goldschmiedekunst zählt, weisen darauf hin, dass auf der Strecke bereits zu frühen Zeiten Händler unterwegs waren.

Obwohl der Gotthard den großen Vorteil bot, dass man mit einem einzigen Auf- und Abstieg die Alpen überqueren konnte, nutzten sowohl das römische Militär wie auch römische Händler andere Pässe.

Die wichtigere römische Handelsroute war die Via Claudia, die über den Reschenpass nach Augsburg führte. Beim Transport von Massengütern vermied man die Alpenüberquerung und nutzte stattdessen das Rhônetal und dann den Weg hoch nach Flandern.

Alte Zollbücher belegen, dass der Handel über den Gotthard lange Zeit nur sehr bescheidene Dimensionen hatte. Der Transport von Handelsgütern über die Alpen war extrem aufwendig und deshalb so teuer, dass er sich allenfalls bei Luxusgütern wie Büchern, Wachs, Gewürzen lohnte.

Der St. Gotthardpass war jedoch auch deshalb für die Händler von geringem Nutzen, weil der Weg hoch zum Pass für den Transport schwerer Güter lange Zeit ungeeignet war. Ursprünglich gab es nur einen streckenweise befestigten Saumpfad, der von Hirten und lokalen Händlern genutzt wurde. Das reichte für den regionalen Handel mit Käse, Vieh, Brotgetreide, Salz und Eisenwerkzeugen.

Erst allmählich wurden diese Pfade befestigt und weiter ausgebaut. In mühsamer Arbeit wurden Treppenstufen, Galerien, an den Felsen hängende Stege und Brücken angelegt, sodass auf den befestigten Wegen schließlich auch Zug- und Lasttiere eingesetzt werden konnten.

Schöllenenschlucht und Urner Loch

Lange Zeit galt die Schöllenenschlucht zwischen den heutigen Orten Göschenen und Andermatt als ein schier unüberwindliches Hindernis. Hier fließt die Reuss durch ein enges Tal. Gewaltige Wassermassen, Schlamm- und Steinlawinen, dazu der Höllenlärm und die von der Gischt glitschig-nassen Granitplatten machten die Schlucht zu einem angsteinflößenden Ort.

Die Teufelsbrücke auf der Gotthard Strasse, eine Xylographie aus dem 19. Jahrhundert.

Die Schöllenenschlucht verbindet den Kanton Uri mit dem Kanton Tessin

Anfangs führte ein in den Felsen gehauener Treppenpfad hinauf bis an jene Stelle, wo die Reuss – vermutlich ab 1230 – auf einem hölzernen Steg überquert werden konnte. Der Legende nach konnte der Bau dieser Brücke nur gelingen, weil man mit dem Teufel einen Pakt eingegangen war, daher der Name Teufelsbrücke. Sie war anfangs aus Holz, ehe dann ab 1595 eine neue Steinbrücke gebaut wurde.

Doch es gab in der Schöllenenschlucht noch einen zweiten Streckenabschnitt, der nur mit großen Schwierigkeiten zu überwinden war. Auf einer Länge von etwa 70 Metern, so schreibt Helmut Stalder in seinem Buch "Mythos Gotthard", musste hier der Chilchberg auf einem Steg umrundet werden, dessen tragende Balken im Felsen verankert waren.

Die aufwändige und kostspielige Instandhaltung habe schließlich dazu geführt, dass man 1707 an dieser Stelle nach neuen Möglichkeiten suchte, den Anstieg zum Gotthardpass zu verbessern.

Der Schweizer Festungsbaumeister Pietro Morettini erhielt damals den Auftrag, ein 64 Meter langes, 2,2 Meter breites und 2,5 Meter hohes Loch in den Felsen zu sprengen. 1708 wurden die Arbeiten abgeschlossen. Das sogenannte Urner Loch gilt heute als der erste Straßentunnel in den Alpen.

Postkutschen überqueren den St. Gotthard

Der erste Postdienst über den St. Gotthard wurde 1615 eingerichtet. Einmal in der Woche machte sich damals im Auftrag Züricher Kaufleute ein Bote auf den Weg nach Bergamo. Ende des 17. Jahrhunderts waren auch die ersten berittenen Boten unterwegs. Der mittelalterliche Saumweg wurde immer weiter ausgebaut, wobei dies von den sogenannten Säumern erledigt wurde, die auch für den Transport zuständig waren und in den Wintermonaten dafür zu sorgen hatten, dass der Weg mit Schlitten passierbar blieb.

Ende des 18. Jahrhunderts wurden dann die Arbeiten zum Ausbau des mittelalterlichen Saumweges intensiviert. Auf einzelnen Streckenabschnitten stand nun eine knapp acht Meter breite, teilweise gepflasterte Straße zur Verfügung.

Ab 1830 verkehrten auf der Gotthardstraße die ersten Postkutschen über den St. Gotthardpass. Heute kann man auf der historischen Strecke eine nostalgische Postkutschenreise buchen.

Mit der Eisenbahn durch den Gotthard

Teufelsbrücke, Urner Loch und die Arbeiten an der ersten Gotthardstraße für den Postkutschenbetrieb waren Meilensteine bei der Erschließung des Passes. Aber erst mit dem Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels stand eine Verkehrsverbindung für den massenhaften Güter- und Personenverkehr zur Verfügung.

Eisenbahn im Bau durch den St. Gotthard-Tunnel.

Die Gotthardbahn ist die rund 206 Kilometer lange Bahnstrecke Immensee-Chiasso

Am 12. September 1872 begannen die Arbeiten auf der damals weltweit größten Baustelle. 15 Kilometer lang sollte ein Tunnel durch den Felsen getrieben werden. Mehr als 2500 Arbeiter schufteten bei Temperaturen von 35 Grad im Drei-Schicht-Betrieb auf den Untertagebaustellen in Göschenen und Ariolo.

Etwa 200 Bauarbeiter fanden bei Unfällen den Tod, andere starben wegen mangelhafter Hygiene an Seuchen. Auch Louis Favre, der als Bauunternehmer das Projekt leitete, erlebte nicht die Vollendung seines Lebenswerks. Am 19. Juli 1879 starb er bei einer Tunnelbesichtigung an Herzversagen.

Am 28. Februar 1880 war es endlich so weit. Die Chronisten vermerken, dass um 18.45 Uhr das Bohrgestänge den Felsen zum ersten Mal durchbrach. Mit einer seitlichen Abweichung von gerade einmal 33 Zentimetern und einer Höhenabweichung von lediglich fünf Zentimetern waren die beiden Stollen aufeinandergestoßen.

Zu Jahresbeginn 1882 rollten die ersten Postzüge durch den Tunnel. Mit der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke war das Tessin zum ersten Mal in seiner Geschichte über eine schneesichere Verkehrsverbindung zu erreichen.

Die ersten Automobile

Noch vor der Jahrhundertwende tauchten die ersten Automobile auf dem St. Gotthardpass auf. Bereits 1895 soll eine Peugeot Quadricycle als erstes Fahrzeug mit Benzinmotor den Passanstieg geschafft haben. Da es damals keine Tankstellen gab, sollen Apotheker das Fahrzeug mit Sprit versorgt haben.

Danach gab es immer wieder Wagemutige, die es ebenfalls schaffen wollten. Helmut Stalder zitiert aus dem Reisebericht eines Franzosen namens Arraou, der im August 1901 die Strecke von Göschenen bis zum Lago Maggiore schaffte. Allerdings ohne Gepäck, das wurde ab Göschenen per Bahn transportiert, um das Fahrzeug leichter zu machen.

Natürlich war die Automobiltechnik zur damaligen Zeit noch längst nicht auf solch extreme Belastungen vorbereitet. So zeigte sich, dass man mit einem Automobil den Berg leichter rauf- als wieder runterfahren kann. Die mit Leder beschlagenen Bremsen brannten bergab schon nach wenigen Kilometern durch, sodass man dazu übergehen musste, das Fahrzeug durch einen Baumstamm abzubremsen, der an einer Kette befestigt war. Der Erfolg soll allerdings mäßig gewesen sein.

Problemloser kam ein Jahr später der Berliner Dichter Otto Julius Bierbaum über den Gotthardpass. In einem roten Phaeton, der mit einem acht PS starken Motor ausgerüstet war, bewältigte Bierbaum zusammen mit einem Fahrer die 136 Kilometer lange Strecke von Bellinzona nach Brunnen in neun Stunden.

Mit 250 Stundenkilometern durch den Gotthard-Basistunnel

Nach 17 Jahren Bauzeit ist der neue Gotthard-Basistunnel 2016 eröffnet worden. Der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel ist seitdem der längste Eisenbahntunnel der Welt. Während die Scheitelhöhe der alten Gotthardbahn bei etwa 1100 Meter über dem Meer lag, liegt sie beim neuen Basistunnel lediglich bei 550 Meter über dem Meer und weist nur ein Gefälle von 150 Meter auf. Damit sind die Alpen kein wirkliches Verkehrshindernis mehr.

Ein Schacht führt vom Gotthard-Basistunnel im Teilabschnitt Sedrun hinauf in den Lüftungsstollen.

Unter dem Gotthardmassiv liegt die 57 km lange Hochgeschwindigkeitsstrecke

Während bislang Güterzüge mit zehn bis zwölf Waggons und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde auf der alten Gotthard-Eisenbahnstrecke unterwegs sind, ziehen heute Güterzüge auf fast ebener Strecke mit 160 Kilometern pro Stunde in der Stunde 40 Waggons durch den Basistunnel.

Personenzügen rasen sogar mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde durch den Tunnel. Damit aber, so schreibt Helmut Stalder in seinem Buch über den Mythos Gotthard, hört das Reisen auf, ein sinnliches Erlebnis zu sein. Wer in einer geschlossenen Kabine durch die Alpen rast, der verliert sein Gefühl für die Berge. Das Reisen wird zu einer abstrakten und alltäglichen Gewohnheit.

Quelle: SWR | Stand: 28.05.2020, 14:00 Uhr

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