Grundzüge des jüdischen Glaubens

Planet Wissen 09.11.2020 02:32 Min. UT Verfügbar bis 11.03.2025 WDR

Geschichte des jüdischen Volkes

Geschichte der jüdischen Religion

Wie konnte die jüdische Religion trotz aller Widrigkeiten und Verfolgungen mehr als 3000 Jahre bestehen? Durch seine lange Existenz hat sich das Judentum bis heute immer weiter entwickelt, verfeinert und vielen Veränderungen angepasst.

Von Allon Sander und Sybille Hattwich

Die drei Säulen der jüdischen Religion

Die jüdische Religion ruht auf drei Säulen:

  1. Sie ist eine allumfassende Religion, die den Gläubigen auf jedem Lebensschritt begleitet sowie Sinn und Inhalt des Lebens definiert – ohne die Möglichkeit eines Widerspruchs.
  2. Sie ist persönlich, individuell und immer nahe dran an den Menschen und ihrem Alltag. Keines ihrer Gesetze ist so schwierig, dass es nicht erfüllt werden könnte. Sollte dies doch einmal der Fall sein, dann muss dieses Gesetz eben nicht befolgt werden. Dann ist es ein Dekret, das die Mehrheit nicht befolgen kann – und damit nichtig. Es muss geändert werden.
  3. Flexibilität ist das dritte Geheimnis, das den Bestand der jüdischen Religion garantiert. Es gibt zwar eine Fülle von Regeln und Gesetzen – innerhalb derer kann man sich aber völlig frei bewegen.

Diese drei Säulen manifestieren sich in den drei Grundelementen des jüdischen Glaubens: dem einen Gott, der Thora und dem Gesetz. Der Glaube an den einen Gott, der Monotheismus, stand am Anfang der Religion.

Eine halb geöffnete alte Thorarolle.

Herzstück der jüdischen Religion ist die Thora

Es begann mit Gott und Abraham

Gott schloss vor etwa 4000 Jahren einen Bund mit Abraham und seinen Nachkommen. Dafür musste Abraham beweisen, dass er wahrhaft gläubig ist. Auf das Geheiß Gottes hin verließ er seine Familie und sein Land, änderte seinen Namen von Abram zu Abraham und zog in Richtung Kanaan.

Selbst seinen geliebten, einzigen Sohn Isaak hätte Abraham für Gott geopfert, doch der unterband die Opfergabe. Er belohnte Abraham mit Reichtum und vielen Nachkommen.

So stellt sich die jüdische Religion den beispielhaften Gläubigen vor. Gottes Gesetze müssen befolgt werden, ohne nach einer Begründung zu forschen, da der Mensch nicht in der Lage ist, die göttliche Logik zu verstehen. Auch Belohnung darf man nicht erwarten. Die Erfüllung der Gebote ist eine Selbstverständlichkeit und dient nicht dazu, um jemandem einen Gefallen zu tun.

Die Thora, die Gott durch Mose dem Volk der Hebräer am Berg Sinai überreichte, war die Weiterentwicklung des Bundes, seine Manifestation und Ausarbeitung. Für die Stämme der Israeliten ist sie die einigende Verfassung.

Die in der Thora enthaltenen Gesetze umfassten jeden Aspekt des Lebens, ob weltlich oder religiös. Sie waren neu und unbekannt, für die Welt im 2. Jahrtausend vor Christus gar schockierend. So gab es Vorschriften darüber, wann, was und wie man zu essen hatte. Diese Speisevorschriften waren eine erhebliche Einschränkung für ein Wüstenvolk, das eigentlich jede Gelegenheit nutzen musste, um satt zu werden.

Mehrere schroffe Bergketten von oben.

Blick vom Berg Sinai

Von der Tempelreligion zur mobilen Religion

Nach der Ankunft der Juden im Gelobten Land (um 1200 vor Christus) wurde eine abstrakte Idee zu einer Religion. Diese drehte sich um einen einzigen Tempel und die dort dargebrachten Opfer der Bauern. Neue Kultformen entstanden, Priestergeschlechter gewannen Einfluss und wurden verehrt.

Dann ereignete sich 586 vor Christus ein Schlag, der fast jede andere Religion zerstört hätte: die Eroberung durch die Babylonier. Sie vernichteten den Tempel und verschleppten die Führungsschicht des Volkes.

Aber weil der jüdische Gott abstrakt und damit überall zu finden ist, mussten die Juden ihren Glauben nicht aufgeben. Es entstand die Idee der Synagogen, wo Religion als erlebte Gemeinschaft gepflegt wird. Vertiefung, Studium und Lehre wurden die Ideale dieser mobilen Religion.

Synagoge mit einer kunstvoll verzierten Kuppel und dem Davidstern auf der Spitze.

Die Synagoge wird zum Ort der Religionsausübung

Der zweite Tempel

Nach der Rückkehr nach Israel wurde der Tempel knapp 50 Jahre später wieder aufgebaut, um die alte Ordnung wieder zu etablieren. Die Thora, die Lehre, wurde nun immer zentraler im religiösen Leben.

Bald begannen ihretwegen die ersten Konflikte. Die Sadduzäer, die von der herrschenden Macht unterstützt wurden, erhoben ihre Worte zur einzig gültigen Quelle der Religion. Die Schriftgelehrten, die populären Pharisäer, glaubten dagegen an Kommentierung und Weiterentwicklung.

Die Spannungen stiegen, alte Institutionen gerieten ins Wanken, Konflikte entbrannten öffentlich. Zwist und Kämpfe schwächten das Volk und machten es radikaler.

Die inzwischen herrschenden Römer hatten schließlich genug und zerstörten zwischen 70 und 134 Land, Stadt und Tempel. Jerusalem existierte nicht mehr, der Tempel war eine Erinnerung unter einem Salzfeld. Letztlich retteten die Pharisäer die Religion mit ihren Schriften.

Jochanan Ben Sakkai, ein Schüler des großen und letzten der Pharisäer, des Menschenfreundes Hillel, gründete Ende des 1. Jahrhunderts ein neues Zentrum der Lehre, die erste Akademie des neuen Judentums. Ab jetzt waren Synagogen das Zentrum der Religion, in denen die Thora gelesen und studiert wurde. Anstelle der drei täglichen Opfer traten drei Gebete. Das rabbinische Judentum entstand.

Grafik: Ein Mann mit Vollbart, Locken, grüner Mütze und orangefarbenem Umhang.

Die Pharisäer retten die Religion

Thora und Talmud

Die Schriften, die Basis des Glaubens, entwickelten sich entsprechend weiter. Um die Thora und die nachfolgenden heiligen Bücher der jüdischen Bibel (die nicht ganz identisch mit dem Alten Testament ist) entstanden große Werke des Gesetzes, der Kommentare, der Liturgie und Literatur.

Abba, ein Schüler von Jehuda HaNassi, gründete 219 nach Christus in Sura eine Akademie, die den Ruhm Babyloniens als jüdisches Gelehrtenzentrum begründete. Zusammen mit anderen Gelehrten begann er mit der Arbeit, die Mischna (die erste Niederschrift der mündlichen Thora) zu kommentieren und die Debatten darüber zu dokumentieren.

Fast 300 Jahre später entstand daraus der babylonische Talmud, das wichtigste Werk jüdischer Auslegung, das Lehrbuch für alle folgenden Generationen.

Philosophen, Kabbala und Chassidismus

Nach den Talmudisten kamen die Philosophen, vor allem im arabischen Raum. Sie waren von griechischen Denkern beeinflusst. Der Ga’on (Akademieleiter) Saadia Ben Josef wurde im 10. Jahrhundert mit seinen philosophischen und grammatikalischen Werken berühmt.

Im 12. Jahrhundert kam einer der größten jüdischen Denker aller Zeiten nach Ägypten: Maimonides. Er verband Religion und Philosophie und trennte Wissen von Glauben. Seine Thorakommentare und seine Auslegungen der Gesetze machten diese zeitlos und verständlich. Er formulierte die 13 Grundsätze des jüdischen Glaubens, die bis heute gelten.

Ungefähr zur selben Zeit, im 12. und 13. Jahrhundert, entwickelte sich die Lehre der Kabbala in Südfrankreich und Nordspanien. Beeinflusst von nichtjüdischen Elementen, sollte dieser Mystizismus eine überrationale, tiefere Beziehung zum Glauben erzeugen. Die Kabbala entfaltete sich weiter und hatte ihre Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert.

Basierend auf der Lehre der Kabbala begann der Wunderheiler Bescht seine Auslegung des Judentums im ukrainischen Medzieboz zu predigen. Er gilt als der Begründer des Chassidismus. Die Chassidim glauben mit viel Freude und Emotion, und versuchen die göttliche Existenz überall zu finden. So konnten auch die in Armut lebenden Juden, die nicht studieren konnten, ihrem Gott nah sein.

Mehrere Männer mit Gebetsmänteln über dem Kopf stehen vor einer Wand, auf der hebräische Schriftzeichen zu sehen sind.

Chassidim in der Ukraine

Gemeinsam gegen Liberalismus

Die Talmudgelehrten waren die größten Gegner der Chassidim. Sie verbündeten sich aber mit diesen gegen eine neue Bewegung, die aus Westeuropa bis hinüber nach Litauen schwappte: das liberale Judentum. Die Reformierten predigten ab 1778 die weltliche Integration und die Offenheit der Religion.

Predigten wurden nun in der jeweiligen Landessprache gehalten, Traditionen, die nicht in den Schriften verankert waren wurden abgeschafft, Frauen und Männer besuchten gemeinsam die Synagoge. Auch wenn der deutsche Teil des Reformjudentums im Holocaust nahezu vollständig ausgelöscht wurde, so zählen dazu heute dennoch die Hälfte aller Juden.

Judentum heute

Neue Fragen, die die jüdische Religion betreffen, entstehen jeden Tag und müssen beantwortet werden. Was sagt das Judentum zu Sushi, zum Piercing, zum Internet, zur Organspende?

Das Beispiel Sushi: Können die getrockneten Algen mikroskopisches Meeresgetier enthalten, das eigentlich verboten wäre? Darf Sushi, das ohne Meeresfrüchte koscher wäre, deshalb noch gegessen werden? Hier ist die Antwort klar: Was nicht mit dem Auge sichtbar ist, kann nicht unkoscher sein. Daran ändert auch die Erfindung des Mikroskops nichts.

Piercing dagegen wird heftig diskutiert. Während liberale Rabbiner ein begrenztes Piercing akzeptieren, nehmen es die Orthodoxen mit der Unversehrtheit des Körpers genau. Sie verbieten jegliche Durchstechung des Körpers, wie wir ihn von Gott bekamen. Dies ist nur zur Lebensrettung erlaubt, der obersten Maxime des Judentums.

Gepiercter Bauchnabel einer Frau. Links und rechts davon liegen je drei Finger mit langen Fingernägeln.

Erlaubt oder verboten?

(Erstveröffentlichung 2007. Letzte Aktualisierung 04.06.2020)

Quelle: WDR

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