Detailansicht von Wanderschuhen.

Religion

Pilgern

In früheren Zeiten pilgerten die Menschen fast ausschließlich aus religiösen Motiven. Heute geht es meist darum, den Alltagsstress zu vergessen und den Kopf freizubekommen. Dennoch bleibt der Pilgerweg auch ein spiritueller Weg.

Von Daniel Schneider

Unterwegs sein ist wichtiger als Ankommen

Pilgern ist kein typisches christliches Merkmal: In allen Weltreligionen ist die Pilgerreise eine besondere Beziehungspflege zwischen Gott und den Menschen. Reisende sind Suchende, die sich als Moslem, Jude, Hinduist, Buddhist oder Christ auf den Weg machen, um mit ihrem Gott Verbindung aufzunehmen.

Da die Tradition des Pilgerns in jeder Religion etwas anders gelagert ist, gibt es nicht die eine Entstehungsgeschichte des Pilgerns. Zurück geht der Pilgerbrauch aber immer auf eine Erfahrung, die gläubige Menschen gemacht haben: Auf bestimmten Wegen oder an bestimmten Orten spüren sie göttliche Kräfte.

Pilgerwege gibt es viele, aber eines verbindet sie alle: Egal, ob das Grab des Heiligen Jakobus in Spanien besucht wird oder die Statue der Heiligen Maria im französischen Lourdes das Ziel ist – Pilger sind immer auch auf der Reise zu sich selbst. Und diese Wegstrecke ist oft der wahre Grund des Pilgerns und unterscheidet es von allen anderen Formen der Fortbewegung.

Einer der ersten Pilger: Abraham

Abraham, der als Vater der drei monotheistischen Religionen Islam, Judentum und Christentum gilt, machte es laut Bibel vor. Als einer der ersten Pilger zog er los, weil Gott es so von ihm verlangte.

Im ersten Buch Mose heißt es: "Der Herr sprach zu Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein." (Genesis 12, 1)

Zusammen mit seiner Frau Sarah, seiner Familie, seinem Neffen Lot und dessen Familie verließ Abraham seine Heimat und machte sich auf den Weg. Schon in seiner Pilgergeschichte ging es in erster Linie um die Erlebnisse auf dem Weg und weniger um das Ziel, welches er, zumindest örtlich, noch nicht einmal kannte.

Bild von 1866 zeigt Abraham mit seiner Magd Hagar in der Wüste.

Abraham pilgerte in Gottes Auftrag

Pilgerboom im Mittelalter

Im Mittelalter erlebte das Pilgern einen Boom. Es gab drei bedeutende Fernpilgerziele, zu denen ein Christ in seinem Leben pilgern konnte: Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela.

Letzteres hatte seine Blütezeit vor allem der Tatsache zu verdanken, dass das Heilige Land und damit Jerusalem von Arabern besetzt war und Rom vielen bußwilligen Pilgern aufgrund der schon damals ordentlich ausgebauten Straßen als nicht anstrengend genug galt.

Das Ziel einer Pilgerreise konnte und kann aber jeder als heilig betrachtete Wallfahrtsort sein, etwa eine Kirche oder das Grab einer Heiligen.

Herkunft und Bildung sind beim Pilgern zweitrangig. Pilger kommen aus jedem Stand – eine Idee, die im standesgeprägten Mittelalter gerade Menschen aus den unteren Schichten begeisterte. Die Motive der Reise waren und sind jedoch äußerst vielfältig. Zuallererst sind die Menschen aus religiösen Gründen unterwegs: Pilgern für das Seelenheil, aus Dankbarkeit, aufgrund eines Gelübdes oder als Buße.

Im Spätmittelalter nahmen sogar weltliche Gerichte das Pilgern in ihren Strafenkatalog auf. Das ging so weit, dass eine Strafpilgerreise nach Santiago vor der Todesstrafe bewahren konnte. Im 15. Jahrhundert pilgerten Menschen zunehmend auch aus Abenteuerlust und weil sie andere Länder und Kulturen kennenlernen wollten.

Pilger auf dem Weg, ein Holzschnitt von 1499.

Holzschnitt mittelalterlicher Pilger

Martin Luther hält Pilgern für "Narrenwerk"

Dabei brachten sogenannte Berufspilger die spirituelle Reise im Spätmittelalter zunehmend in Verruf. Sie ließen sich von reichen Leuten bezahlen und pilgerten im Namen ihres Auftraggebers eine bestimmte Strecke, mit der sich ihr Kunde dann brüsten konnte.

Auch andere Trittbrettfahrer nutzten die großzügigen Rechte aus, die es jedem Pilger zu dieser Zeit erlaubten, zollfrei zu reisen und umsonst verpflegt und untergebracht zu werden. Dabei wurde der eigentliche Sinn des Pilgerns völlig verdreht.

Während der Reformationszeit nahm das Pilgern stark ab. Martin Luther hatte einen gewissen Anteil daran: Er verglich das religiös motivierte Pilgern im 16. Jahrhundert mit dem Ablasshandel, bei dem sich Menschen durch den Kauf von sogenannten Ablassbriefen weniger Zeit im Fegefeuer erhofften.

Luther bezeichnete das Pilgern als "Narrenwerk" und spottete über den Jakobsweg nach Santiago de Compostela: "Lauf nicht dahin, man weiß nicht, ob Sankt Jakob oder ein toter Hund daliegt." In Norwegen wurde das Pilgern ab 1537 sogar unter Androhung der Todesstrafe verboten und von den damals herrschenden Protestanten als Irrlehre angeprangert.

Doch auch die Pilgerbewegung reformierte sich: Die Beweggründe des Pilgers wurden nicht länger vom Zwang und festen Regeln geprägt, sondern galten als freiwillig und individuell. Die Strecke musste beispielsweise nicht mehr in einer bestimmten Anzahl von Tagen zurückgelegt werden.

Spätestens seit dieser Veränderung ist das auch der Hauptunterschied zwischen einer Pilgerreise und einer Wallfahrt: Während der Wallfahrer Dauer, Ziel und Anliegen ganz klar definiert, sind es beim Pilger eher die Begegnungen und Erlebnisse unterwegs, die den Reiz der Reise ausmachen.

Eine Pilgerreise war und ist immer auch ein Abenteuer. Trotzdem blieb das Pilgern nach dem Boom im Mittelalter bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine Beschäftigung, die nur wenige Menschen für sich entdeckten.

Ein Pilger steht vor der Kathedrale in Santiago de Compostela.

Pilgerziel Kathedrale in Santiago

Der moderne Pilger

1987 wurde der Jakobsweg vom Europarat zur europäischen Kulturroute erhoben und ausdrücklich empfohlen. Wiederentdeckte Wegenetze, steigendes kulturelles Interesse und der Wunsch nach Entschleunigung locken inzwischen viele Menschen auf den "Camino". Das Pilgern in Europa wird von vielen Menschen wiederentdeckt.

Auch deutsche Pilger frequentieren vermehrt die Strecken. Zu verdanken ist dieser Aufschwung auch dem Moderator und Comedian Hape Kerkeling. Mit der Veröffentlichung seines Bestsellers "Ich bin dann mal weg" im Jahr 2006 prägte er nicht nur eine neue Redewendung, sondern ließ auch die deutschen Pilgerzahlen in die Höhe schnellen.

Pilgern ist heute wieder genau das, was Hippocrates, der berühmte Arzt der Antike, mit dem Zitat "Gehen ist des Menschen beste Medizin" verdeutlicht: eine ganzheitliche Bewegungskur für Leib und Seele.

Hatten die meisten Menschen lange Zeit keine andere Fortbewegungsmittelwahl als die eigenen Füße, ist diese Sehnsucht nach Einfachheit heute wieder ein Luxusgut, das das eigene Leben ordnen soll – oder auch durcheinander bringen.

Deshalb entdecken viele Menschen das Pilgern für sich. Nicht unbedingt religiös motiviert, aber doch auf der Suche: nach sich selbst, nach anderen oder nach Gott.

Das Besondere an der modernen Pilgerbewegung: Die Reise zu sich selbst verbindet alle Pilger und ist doch gleichzeitig sehr individuell. Das "Auf-dem-Weg-Sein" ist auch abseits der Pilgerbewegung zum Lebensmotto geworden und so spiegelt sich die lateinische Wortbedeutung von "Pilger", nämlich Gast/Fremder ("pergere"), im Lebensstil einer ganzen Gesellschaft wider: Der Weg ist das Ziel.

Pilger auf dem Jakobsweg bei Ulm.

Pilgern bewegt Körper und Geist

(Erstveröffentlichung: 2012. Letzte Aktualisierung: 17.12.2019)

Quelle: WDR

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