Das Logo der Scientology-Organisation an der Fassade des Scientology-Gebäudes in Hamburg.

Religion

Was ist eine Sekte?

Sekten – damit sind im alltäglichen Sprachgebrauch meist Gruppen kollektiven Wahnsinns gemeint, mit bizarren, religiösen und teils gefährlichen Ansichten. Doch tatsächlich stigmatisiert der Begriff Sekte vor allem unzählige kleine Glaubensgemeinschaften.

Von Carsten Upadek

Bedrohung durch gefährliche Gruppen?

Die 1990er-Jahre gelten als Höhepunkt der allgemeinen Sekten-Hysterie in Deutschland. Viele Menschen sind aufgeschreckt von diversen Scientology-Aussteigerberichten. In Tokio greift eine buddhistisch-hinduistische Glaubensgruppe namens Ōmu Shinrikyō die Menschen in der Metro mit dem Nervengas Sarin an. 13 Menschen sterben, Tausende werden verletzt. Die Attentäter werden in Deutschland als "Aum-Sekte" bekannt.

Zwischen 1994 und 1997 sterben in Kanada, in Frankreich und der Schweiz insgesamt 74 Mitglieder eines geheimen apokalyptischen Ordens durch Mord und Selbstmord: die Sonnentempler. In Kalifornien töten sich 39 Mitglieder der UFO-Religion "Heaven's Gate".

Porträt des Gurus und Gründers der Sekte Aum Shinrikyo Shoko Asahara im Oktober 1990 in Japan.

Shoko Asahara, Gründer der Aum-Sekte

Kein neutraler Sektenbegriff in Sicht

Die Bundesregierung reagiert auf die wachsende Besorgnis ihrer Bürger und richtet eine umfangreiche, überparteiliche Untersuchungskommission ein, die zwei Jahre lang das Phänomen "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" untersucht. Stimmen die Berichte über bedrohliche Sekten? Warum geraten die Menschen in ihre Fänge? Bedarf es neuer Gesetze, um die Bürger und den Staat zu schützen?

Der Abschlussbericht von 1998 umfasst 602 Seiten und kommt zu einem nüchternen Ergebnis: Von den sogenannten Sekten geht keine Gefahr für Staat und Gesellschaft aus. Anhänger sind in der Regel keine passiven Opfer, sondern bringen "eine Reihe von Bedürfnissen, Wünschen oder Lebensproblemen" mit und hoffen auf Erfüllung und Befriedigung in den Gemeinschaften.

Als Ergebnis lehnt die Enquete-Kommission eine weitere Verwendung des Begriffes Sekte mit seiner "negativen Konnotation" für alle religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften als "fahrlässig" ab.

14 Jahre nach dieser Feststellung schreibt allerdings 2012 der Religionssoziologe Gerald Willms in seinem Buch "Die wunderbare Welt der Sekten": "Die Verwendung des Sektenbegriffs in seiner ausschließlich negativen Bedeutung ist in der Öffentlichkeit derart verbreitet, dass auch die zwischenzeitlich unternommenen Versuche, einen neutralen Sektenbegriff zumindest in den Wissenschaften zu etablieren, gescheitert sind."

Geschichte der Andersdenkenden

In der Antike waren Mitglieder einer Sekte die Anhänger einer philosophischen oder politischen Richtung. Das frühe Christentum bezeichnete damit Glaubenslehren oder Praktiken, die sie als abweichend von der vorherrschenden Überzeugung erklärten. Dadurch erhielt das Wort Sekte eine negative Bedeutung.

Der Begriff setzte sich umgangssprachlich durch und wurde auch bei anderen gesellschaftlichen Konflikten verwendet, auch wenn die Gruppen "weder eine religiöse noch eine weltanschauliche Prägung, sondern beispielsweise eine eher politische oder psychotherapeutische Ausrichtung" hatten, heißt es im Kommissionsbericht.

Sekte ist also alles, was "irgendwie 'anders', auf jeden Fall 'böse' und deswegen ungemein 'gefährlich'" ist, so Religionssoziologe Willms.

Systematisierung der Sondergemeinschaften

Religiöse Sondergemeinschaften entstehen durch Abspaltung von einer Kirche oder einem Glaubensbekenntnis. Während man in Letztere hineingeboren werde, so der Religionssoziologe Max Weber, rekrutierten Sekten Anhänger durch "individuelle Aufnahme nach Feststellung der Qualifikation".

Gerald Willms unterscheidet drei Typen von religiösen Gruppen, je nach Nähe zum abendländischen Weltbild. Jene, die "die 'normale' Welt und ihre säkularen Werte völlig ablehnen; jene (…), die ihr zwar skeptisch gegenüberstehen, sich aber mit ihr arrangiert haben; und zuletzt jene (…), die sie vollständig bejahen bzw. ihr sogar mit einer gewissen Übererfüllungsmentalität begegnen".

Zur ersten Kategorie zählt Willms spektakuläre "'Selbstmord-Sekten" wie "Heaven's Gate", aber auch radikale christliche Gruppen wie die "Zeugen Jehovas" und geistliche Gemeinschaften des Katholizismus.

Die zweite und größte der Gruppen bezeichnet Willms als "Feierabendreligionen", weil ihre Anhänger den Alltag in Anpassung an seine Gesetze leben, aber in der Freizeit "eine spirituelle Ergänzung oder religiöse Vervollständigung" suchen.

Oft seien diese Religionen gemeinschaftlich-spirituell organisiert, etwa die abendländischen Großreligionen, die meisten "klassischen" Sekten, viele evangelikale Pfingstler- und Charismatikergruppen, esoterische Gemeinschaften sowie "Geheimgesellschaften" wie die Freimaurer oder Rosenkreuzer.

Die letzte Gruppe der "Ellenbogen-Religionen" versprechen Anhängern Macht über das eigene und das Weltschicksal und bieten oft kostenintensive "Techniken" an, um sich durchzusetzen. Willms zählt dazu etwa satanistische Phänomene, Marktesoterik, Trendreligionen oder auch Scientology.

Boom kleiner Gruppen

Inzwischen werden in Deutschland die "klassischen" Sekten weniger als Problem wahrgenommen als kleinere Gruppen, deren Einfluss steigt. Die Beratungs- und Informationsstelle Sekten-Info NRW zählte im Jahr 2013 die meisten Anfragen und Beratungen in den Bereichen Esoterik und Fundamentalismus.

Zu Letzterem gehören fundamentale islamische Strömungen wie der Salafismus, deren Anhängerzahl sich in Deutschland laut Verfassungsschutz jedes Jahr beträchtlich erhöht. Daneben wachsen auch die christlich-fundamentalen Freikirchen und die Zahl ihrer Anhänger. Sie versprechen besonders intensive Glaubenserfahrungen.

Weltanschauliche Wahrheiten

Bei aller Unübersichtlichkeit von religiösen Strömungen und weltanschaulichen Perspektiven finden sich doch bei allen Glaubensgemeinschaften die Wünsche, Bedürfnisse und Ängste der Gesellschaft wieder. Deshalb entwickelte sich zum Beispiel ein individualistischer, spezifisch westlicher Buddhismus, so Religionssoziologe Gerald Willms.

Deshalb leben die Amish-People in den USA in der Tradition von Schweizer Bauern des 17. Jahrhunderts als Abgrenzung zur verwirrenden Moderne. Und deshalb betet die Bewegung Legio Maria in Westkenia einen schwarzen Jesus an. "Jede Religion widerspiegelt zuallererst grundsätzliche weltanschauliche Wahrheiten ihrer Anhänger, nicht mehr und nicht weniger."

Schwarze Nonnen mit weißen Gewändern.

Mitglieder der Bewegung Legio Maria, die einen schwarzen Jesus anbeten

(Erstveröffentlichung 2014. Letzte Aktualisierung 22.07.2019)

Quelle: WDR

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