Wolken über der Zugspitze.

Gebirge

Lebensraum Hochgebirge

Das Hochgebirge ist voller Gegensätze – eisige Höhen und weiße Gipfel, schroffe Felsen und blühende Flächen, einzigartiger Lebensraum und doch lebensfeindlich. Auf der ganzen Welt gibt es diese faszinierenden Ökosysteme, die bis in mehrere tausend Meter Höhe reichen.

Von Andrea Wengel

Das Hochgebirge

Das Leben im Hochgebirge ist hart und karg. Tiefe Täler, steile Felswände und vereiste Gipfel sind der Inbegriff einer imposanten Hochgebirgskulisse. In diesem Bild finden sich auch schon einige der wesentlichen Merkmale für dieses Landschaftsbild.

Denn auch wenn man es dem Namen nach vermuten könnte – Hochgebirge müssen nicht einfach nur hoch sein. In der Arktis etwa gibt es Gebirgszüge, die den Meeresspiegel um weniger als 1000 Meter überragen, die aber dennoch Hochgebirgscharakter zeigen. Andere Gebirgsketten reichen bekanntlich 6000 bis 8000 Meter in die Atmosphäre.

Bezeichnend für alle Hochgebirge ist ihre hohe Reliefenergie, das bedeutet: die Steilheit der Hangzonen. Daneben sind noch weitere Faktoren entscheidend: Hochgebirge sind kälte- und frostgeprägte Lebensräume mit den daraus resultierenden Folgen. Über einer kältegeprägten Waldgrenze schließt sich eine gehölzfreie Zone an.

Die Sommer in diesen Grenzlagen sind zu kurz, um ein Ausreifen der Blätter und Nadeln von Bäumen zu ermöglichen. Der Boden von Hochgebirgslebensräumen ist durch einen raschen Wechsel von Gefrieren und Auftauen geprägt. Dadurch kommt es zum Bodenfließen (Solifluktion), wobei der Oberboden hangabwärts gleitet.

Auch die sogenannte Kryoturbation ist eine Folge des Frostwechsels. Dabei werden die Bodenbestandteile aufgetrennt und wieder durchmischt. Beide Mechanismen führen zu hoher Belastung der Pflanzen im Wurzelraum.

Außerdem muss es in einem Hochgebirge einmal eine Vergletscherung gegeben haben oder noch geben.

Das Jungfraujoch und die Sphynx-Aussichtsterrase auf 3571 Metern Höhe

Eine imposante Hochgebirgskulisse

Wachstumszonen im Gebirge

Nicht nur der Wald hat seine Grenzen im Gebirge. Bedingt durch die Temperatur, die mit zunehmender Höhe abnimmt, gibt es klar abgegrenzte Wachstumszonen für jede Art von Pflanzen. In den Alpen liegt die Waldgrenze etwa zwischen 1700 und 2200 Metern. Darüber schließt sich das alpine Grasland an, das bis etwa 3000 Meter hoch reicht.

Ab dieser Region ist für die meisten Pflanzen der Sommer mit nur ein bis zwei Monaten zu kurz, sodass sie nicht mehr zur Samenreife gelangen können. Die Kältegrenze des pflanzlichen Lebens ist erreicht, an der die niedrigen Temperaturen den Stoffwechsel lahmlegen.

Der Bereich oberhalb der 3000 Meter wird als nivale Zone bezeichnet. Was hier wächst, führt ein Leben am Limit. Hier oben gedeihen nur ausgesuchte pflanzliche Hochgebirgs-Spezialisten, die mit diesen kurzen Vegetationsperioden und den tiefen Temperaturen zurechtkommen. Je nach geografischer Lage der Hochgebirge sind diese Wachstumsgrenzen allerdings sehr unterschiedlich. In äquatornahen Gebirgen zum Beispiel reichen die Waldgrenzen bis zu 4000 Metern hinauf.

Der Blick auf die Lechtaler Alpen

Die Waldgrenze in den Alpen liegt zwischen 1700 und 2200 Metern

Schatzkammer der Arten

In Europa machen Hochgebirge zwar nur drei Prozent der Kontinentalfläche aus, beherbergen aber 20 Prozent der Pflanzenarten. Für andere Kontinente dürfte dieses Verhältnis sehr ähnlich sein, allerdings sind hier die Daten noch zu ungenügend erhoben, um exakte Zahlen anzugeben.

Das heißt, dass rund ein Fünftel aller europäischen Pflanzenarten nur im Hochgebirge vorkommen, oberhalb der Baumgrenze in kaltem und schneereichem Gelände. Viele dieser Pflanzen gibt es nur hier oben und nirgendwo sonst auf der Welt. So ein einzigartiger Biodiversitätsschatz, ein unschätzbarer Artenreichtum, ist eine wichtige genetische Ressource für die Evolution.

Aber auch für uns Menschen sieht die Gebirgsflora nicht einfach nur schön aus. Sie beherbergt auch eine ganze Reihe von Nutzpflanzen, Pflanzen mit mannigfaltiger medizinischer Wirkung. Zum Teil haben wir sie schon wieder vergessen – oder aber wir haben sie noch gar nicht erst kennengelernt. Doch diese Pflanzenwelt verändert sich.

Edelweiß

Solche Pflanzen gibt es nur oberhalb der Baumgrenze

Lebensraum in Gefahr

Wer dem Alltag ins Hochgebirge entflieht, für den ist es eine malerische Idylle, eine gewaltige und unberührte Natur. In diesen Regionen der Felsriesen scheint es sie noch zu geben, die heile Welt, die der Mensch noch nicht gestört hat. Ein trügerischer Schein, denn nie zuvor haben sich die Hochgebirgsregionen so schnell verändert wie heute – auch die, in die der Mensch noch nie einen Fuß gesetzt hat.

Das Hochgebirge ist ein äußerst empfindliches Ökosystem, das sehr deutlich auf die zunehmend milderen Temperaturen unseres Klimas reagiert. So konnten Wissenschaftler der Universität Wien beobachten, dass innerhalb der vergangenen 15 Jahre die Artenzahl auf hohen Gipfeln um zehn Prozent und mehr zugenommen hat.

Innerhalb des 20. Jahrhunderts hat sich die Artenzahl sogar verdoppelt. Pflanzen aus tieferen Bergregionen können immer höher siedeln. Dazu gehören zum Beispiel das Stängellose Leimkraut oder das Zweizeilige Kopfgras. Sie können sich neues Terrain erobern.

Den kälteangepassten und hochspezialisierten Gebirgspflanzen wie beispielsweise dem Alpen-Mannsschild, eine Paradeart für die Extremklimaspezialisten, dem Einblütigen Hornkraut oder dem Gletscherhahnenfuß wird es dagegen schlicht zu warm. Ihr Energiehaushalt kommt durcheinander, sie verbrauchen mehr, als sie produzieren können. Zwar wandern sie weiter nach oben – aber auch der höchste Gipfel hat einmal ein Ende.

All diese Pflanzen sind von der klimatischen Erwärmung massiv bedroht. Für den Laien sind diese klimatisch bedingten Veränderungen kaum wahrzunehmen. Ganz anders sieht es allerdings beim "ewigen Eis" aus, dessen Tage gezählt sind.

Kühe auf einer alpinen Almwiese

Dem Alltag entfliehen in die malerische Idylle

Gletscher auf dem Rückzug

Betrachtet man die vergangenen 20.000 Jahre in der Geschichte der Alpen, so hat es innerhalb dieser Zeitspanne immer wieder dramatische Klimaveränderungen gegeben. Gletscher stießen weit vor und zogen sich wieder zurück. Seit Jahrzehnten ziehen sich die Gletscher unaufhaltsam zurück – und das gilt nicht nur für die Alpen, sondern für fast alle Gletscher weltweit.

Dass dies keine natürliche Klimaschwankung mehr ist, zeigen Ergebnisse der Messungen aus Eisbohrkernen, die aus den Gletschern entnommen wurden: Der aktuelle CO2-Gehalt in der Atmosphäre war noch nie so hoch, verglichen mit den vergangenen 500.000 Jahren.

Solche Werte machen den menschlichen Einfluss auf unser Klima deutlich. Mit dem Eis schwinden die hellen Flächen, die das Sonnenlicht reflektieren. Der dunkle Fels erwärmt sich wesentlich stärker. Dort, wo die Gletscher keinen Halt mehr geben und der Permafrost taut, kommt es zu Erdrutschen und Felsstürzen. Die Gletscherschmelze dürfte aber auch in nicht allzu ferner Zukunft unsere Wasserversorgung negativ beeinflussen.

Das über 4000 Meter hohe Jungfraumassiv von der Bahnstation

Die Gletscher ziehen sich zurück

Klimasensor Hochgebirge

Das Hochgebirge reagiert schneller und stärker auf die globale Erwärmung als viele andere Regionen und wird daher in der Wissenschaft häufig als Klimasensor herangezogen. Dieser Klimasensor befindet sich in einem rasanten Wandel. Den Antrieb liefert der Mensch.

Manch ein Wissenschaftler hält den Klimawandel für das erste wirklich globale Experiment der Menschheitsgeschichte. Es ist höchste Zeit zum Umdenken, wenn wir so einzigartige und atemberaubende Lebensräume wie die des Hochgebirges erhalten und retten wollen.

Quelle: SWR | Stand: 23.06.2020, 16:20 Uhr

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