Plastik-Buchstaben in verschiedenen Farben auf weißem Hintergrund.

Hören

Synästhesie

Manchmal riechen wir einen bestimmten Duft und werden sofort an Situationen aus der Kindheit erinnert. Für einige Menschen geht es noch einen Schritt weiter: Sie können Bilder hören, Buchstaben fühlen oder Töne sehen.

Von Julia Ucsnay

Farbhören ist erblich

Besonders verbreitet ist das "farbige Hören": Die Betroffenen hören Geräusche, Wörter und Zahlen und sehen gleichzeitig Farben dazu.

So denkt eine Synästhetikerin etwa beim Buchstaben O an ein helles Grau, das bei lauter Aussprache blau wird. Ein anderer sieht ganze Farbgemälde vor sich, sobald er Klaviermusik hört. Und eine dritte Betroffene empfindet das Lachen ihres Mannes als goldglänzendes Braun, knusprig wie ein Toast mit Butter.

Helle Töne – helle Farben: Nach dieser Analogie ordnen nicht farbig hörende Menschen meist Töne den Farben zu. Die Erlebnisse von Synästhetikern gehen jedoch weit über bloße Farbassoziationen hinaus. Sie bilden sich meist schon in der Kindheit heraus und können nicht unterdrückt werden.

Die Wissenschaft nimmt das Phänomen ernst. Bislang gibt es jedoch wenig gesicherte Erkenntnisse über sein Entstehen. Der britische Neurologe Simon Baron vermutet, dass im Gehirn der Betroffenen eine ungewöhnliche Verdrahtung existiert.

Andere Studien gehen davon aus, dass die Sehrinde von Synästhetikern während des Hörens aktiviert ist.

Einiges spricht dafür, dass Synästhesie genetische Ursachen hat. Von 26 Betroffenen, die an der Universität Cambridge untersucht wurden, hatte die Mehrzahl nahe Verwandte, die gleichfalls synästhetisch begabt waren.

Fachleute schätzen, dass sich bei jedem 2000. Menschen die Sinne überschneiden. Mehr als 80 Prozent davon sind weiblich.

Nicht alle freuen sich über ihre Begabung: Stark synästhetisch veranlagte Personen klagen häufig über Konzentrationsschwierigkeiten. Andere wiederum nutzen ihre besondere Fähigkeit als Eselsbrücke: Sie assoziieren beim Lernen etwa den Klang von Lateinvokabeln mit bestimmten Farbmischungen.

Das Phänomen ist seit Jahrhunderten bekannt

Das Phänomen, Farben zu hören oder Töne zu sehen, ist nicht neu. Schon 1690 erwähnte der Philosoph John Locke einen Blinden, der viel über die sichtbaren Objekte nachgedacht hatte. Mithilfe von Erklärungen seiner Freunde und seiner Bücher meint dieser eines Tages, er wisse nun endlich, was Scharlachrot bedeute: Es klinge wie eine Trompete.

In der Folge versuchte unter anderem Isaac Newton, Farben und Töne rechnerisch einander zuzuordnen. Darauf basierend entwickelte im 18. Jahrhundert der Mathematiker Louis-Bertrand Castel ein Farbenklavier.

Über ein Jahrhundert später schrieb der russische Komponist Alexandr Skrjabin seine Symphonie "Prométhée": Die Partitur für ein Lichtklavier soll Töne in Farben und Formen übersetzen.

Auch der Maler Wassily Kandinsky war synästhetisch begabt. In der Anthroposophie Rudolf Steiners fand er eine spirituelle Erklärung für sein Farbenhören.

Steiner sprach davon, dass "jeder Farbe, jeder Lichtwahrnehmung ein geistiger Ton entspricht". Systematisch untersuchte zum ersten Mal Francis Galton im Jahre 1883 die Erfahrungen von Synästhetikern.

Er kam zu dem Schluss, dass das Phänomen individuell einzigartig sei: Jeder Farbenhörer sieht eine andere, ganz spezifische Farbe zu einem bestimmten Ton.

Trompete auf blauem Untergrund.

Klingt Scharlachrot wie eine Trompete?

Kugelförmige Hühnchen

Andere Sinnesvermischungen sind seltener. Es kommt vor, dass Farben mit einem bestimmten Geschmack verbunden werden oder Töne mit einer besonderen Körperhaltung.

Der amerikanische Neurologe Richard E. Cytowic berichtet von einem Restaurantgast, der sich nach dem Essen beklagte: "Das Hühnchen schmeckte kugelförmig."

(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 24.08.2020)

Quelle: WDR

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