Felsenwüste im kalifornischen Owens Valley

Drachenfliegen

Drachenrekorde

Nur mit der Kraft des Windes, ganz ohne Motor bewegen sich Drachenflieger mit mehr als 100 Kilometern pro Stunde fort. Seit diese Sportart Mitte der 1960er an den Stränden Kaliforniens populär wurde, begeben sich die Piloten immer wieder auf Rekordjagd. Eine kleine Chronik schier unglaublicher Fluggeschichten.

Von Annika Zeitler

Dauerflug

1980: An Klippen und Dünen ist der Wind sehr konstant. Deshalb können Drachenflieger sich dort ähnlich wie eine Möwe für lange Zeit in der Luft halten. Ein erster Höhepunkt in der Geschichte der Drachenrekorde ist der Dauerflug von Bob Wills auf Hawaii, der jahrzehntelang ungeschlagen bleibt: 24 Stunden und 31 Minuten. Nach den ersten Stunden in der Luft ruft Bob nach einer warmen Jacke. Sein Bruder steigt in einem zweiten Drachen zu ihm auf und lässt die Jacke dann an einem Seil herunterbaumeln.

Streckenrekorde

1983: Das Owens Valley in Kalifornien ist bekannt für eine Reihe von Rekorden im Drachenfliegen. Unter den Piloten wird es als Mekka dieser Sportart gehandelt. Die Bedingungen sind optimal: Schnell treffen die Drachenflieger hier auf warme Aufwinde, die sie kilometerweit entlang der Berge tragen.

Mit 355 Kilometern gelingt Larry Tudor dort im Jahr 1983 der bis dahin längste Flug in der Geschichte des Drachenfliegens. Jahrzehntelang erreicht niemand auch nur annähernd diese Weite.

2001: Der Österreicher Manfred Ruhmer lässt sich mit einem Ultraleichtflugzeug über das Zapata County in Texas nach oben ziehen. Bereits auf 1000 Metern Höhe klinkt er sich aus und lässt sich von den warmen Aufwinden tragen.

Doch dann passiert es: In einem Wolkenloch sinkt Ruhmer auf 400 Meter, kann sich aber mit einer rettenden Thermik wieder nach oben schrauben. Nach 10,5 Stunden landet er westlich von Dallas. Mit 700,6 Kilometern überbietet er die Weite von Larry Tudor deutlich. Das entspricht einer Strecke von München nach Rom.

Spektakuläre Überflüge

1989: Judy Leden ist eine Frau, die an ihre Grenzen und darüber hinaus geht. Die Drachenfliegerin lässt sich 1989 an der englischen Südküste von einem Heißluftballon in die Höhe ziehen. Über den Kreidefelsen von Dover löst sie die Schnur und überfliegt als erste Frau den Ärmelkanal mit einem Drachen.

An dieser Stelle des Ärmelkanals sind es zwar nur 34 Kilometer von England nach Frankreich, aber die Winde sind unberechenbar. Die große Herausforderung für Judy Leden besteht darin, dass sich der Drachen beim Lösen vom Ballon nicht überschlägt und nach unten stürzt. Sie schafft es und landet sicher in der Nähe des französischen Calais.

2001: Der italienische Drachenflieger Angelo d'Arrigo fliegt in mehreren Etappen mit seinem Adler Nike und in Begleitung anderer Zugvögel über einen Teil der Sahara bis nach Sizilien. Allein der Weg über die Wüste beträgt 615 Kilometer.

Nach dem Überflug über die Sahara wartet der Italiener mit Tausenden Zugvögeln an der Nordspitze Tunesiens auf den passenden Südwestwind Richtung Mittelmeer. Ein paar Tage später schleppt ihn ein Ultraleichtflugzeug in seinem Drachen nach oben und er gleitet in einer Stunde und 50 Minuten auf seine Heimatinsel Sizilien. Insgesamt legt Angelo d'Arrigo eine Strecke von 785 Kilometern zurück.

Porträt von Angelo d'Arrigo mit Adler im Vordergrund

Angelo d'Arrigo war einer der besten Drachenflieger der Welt

2003: Russische Vogelkundler schicken Angelo d'Arrigo auf eine außergewöhnliche Mission: Er soll eine Gruppe junger Kraniche in ihr Winterquartier bringen. Sibirische Kraniche sind selten und vom Aussterben bedroht. Seit Jahren werden sie in einer Zuchtstation künstlich ausgebrütet.

Das Problem: Ohne ihre Eltern haben die Vögel keine Ahnung von ihrer Heimat, geschweige denn von ihrer Flugroute in den Süden. Angelo soll ihnen den Weg zeigen. Die Route: Vom Norden Sibiriens über Kasachstan und Turkmenistan bis ans Kaspische Meer. 5300 Kilometer in mehreren Etappen – kein Mensch hat je einen längeren Flug mit einem Hängegleiter unternommen.

Höhenrekorde

2004: Schon wieder Angelo d'Arrigo: Der Italiener will mit einem Drachen und ohne zusätzlichen Sauerstoff den 8848 Meter hohen Mount Everest überfliegen, den höchsten Berg der Welt. Es ist eisig kalt. Seit Tagen schon ist der Himmel mit Nebel und Wolken verhangen. Der Höhenwind weht mit Geschwindigkeiten von bis zu 200 Kilometern pro Stunde um die Gipfel der Himalajariesen.

Ein Schleppflugzeug zieht Angelo d'Arrigo auf knapp 9000 Meter Höhe. Die Bedingungen sind hart: Temperaturen von minus 50 Grad Celsius, unberechenbare Turbulenzen und dünne Luft. In der Nähe des Gipfels klinkt d'Arrigo sich aus und überfliegt als erster Drachenflieger den Mount Everest.

Der schneebedeckte Gipfel des Mount Everest in der Dämmerung

Der Mount Everest: 8848 Meter hoch

2005/2006: Bereits ein Jahr später macht sich Angelo d'Arrigo auf den Weg nach Südamerika, um seinen eigenen Höhenrekord in den Anden zu brechen. Zunächst will er den höchsten Berg des Kontinents überfliegen, den fast 7000 Meter hohen Aconcagua. Mit speziellem Lauftraining und Tests im Windkanal hat er sich akribisch vorbereitet.

Das Flügeldesign seines Drachens hat er den riesigen Schwingen der Anden-Kondore nachempfunden. Auch die Flugeigenschaften des Geräts orientieren sich an den mächtigen Geiern. Bevor d'Arrigo abheben kann, muss aber auch er wie ein Kondor auf das richtige Wetter warten.

Seeadler mit ausgebreiteten Flügeln

Seeadler haben einen Instinkt für Thermik

Am 31. Dezember 2005 ist es schließlich so weit und die Aufwinde schrauben ihn in die dünne Luft auf 7400 Meter Höhe. Nur sechs Tage später gelingt es ihm sogar auf 9100 Meter zu steigen, der Rekord aus dem Himalaja ist gebrochen.

Weitere Flugträume kann sich der außergewöhnliche Drachenpilot aber nicht mehr erfüllen. Angelo d'Arrigo stirbt am 26. März 2006 beim Absturz mit einem Ultraleichtflugzeug während einer Flugschau in Sizilien.

Quelle: WDR | Stand: 13.05.2020, 08:20 Uhr

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