Thomas Haigis zu Gast bei Planet Wissen.

Deutscher Bundestag

"Jede Sichtweise ist willkommen!"

Mobilität, Leben im Alter, Integration – in Filderstadt reden die Bürgerinnen und Bürger bei wichtigen Fragen mit. Die 46.000 Einwohner zählende Gemeinde gehört zu den Pionieren der Bürgerbeteiligung in Deutschland. Thomas Haigis hat das Konzept als Referent für Bürgerbeteiligung maßgeblich entwickelt und bereits 150 Workshops und Runde Tische organisiert.

Von Beate Krol

Planet Wissen: Die Gemeinde Filderstadt lädt ihre Bürger seit 18 Jahren zu Workshops und Bürgerräten ein, um sie an der Stadtentwicklung zu beteiligen. Was verspricht sie sich davon?

Thomas Haigis: Die Vorteile liegen auf mehreren Ebenen. Zum einen verkürzen sich durch die Bürgerbeteiligung Planungsabläufe im Gemeinderat und in der Verwaltung. Zum anderen tut sich die Politik leichter mit ihren Entscheidungen, wenn sie die Meinungen und Bedürfnisse der Bürgerschaft kennt. Weil sie dann besser abwägen kann.

Die klassische Bürgerbeteiligung erschöpft sich meist darin, Bebauungspläne vorzustellen. Was machen Sie anders?

Wenn ein Stadtplanungsamt einen Bebauungsplan einer Bürgerbeteiligung zuführt, ist genau vorgeschrieben, wie und bis wann alles abzulaufen hat. Das ist ein sehr einseitiger Dialog. Wir sorgen in unseren Workshops und Runden Tischen für einen tatsächlichen Dialog, der auch Menschen gerecht wird, die sich nicht trauen, vor 150 Menschen aufzustehen und ihr Problem zu schildern.

Bürgerbeteiligung in Filderstadt

Planet Wissen 11.09.2020 01:42 Min. Verfügbar bis 11.09.2025 SWR

Wie machen Sie das?

Unsere Erfahrung ist: Je kleiner die Gruppe, desto eher äußern sich auch Bürgerinnen und Bürger, die sich in Diskussionen nicht so wohlfühlen. Deshalb laden wir nie mehr als 120 Menschen zu den Workshops ein, und nachdem wir sie über das Thema informiert haben, bilden wir moderierte Kleingruppen, die maximal acht Teilnehmer haben.

Sie legen großen Wert darauf, dass die Workshops genau so zusammengesetzt sind wie die Bevölkerung. Nun weiß man, dass manche Menschen schwerer zu erreichen sind als andere, Jugendliche und Migranten beispielsweise, aber auch Menschen mit schwacher schulischer Bildung. Wie bekommen Sie es hin, dass genügend Menschen aus jeder Gruppe kommen?

Wir erhöhen die Wahrscheinlichkeit, indem wir aus den beteiligungsfernen Gruppen gezielt doppelt oder sogar zweieinhalb Mal so viele Menschen einladen wie aus Gruppen, von denen wir wissen, dass die Menschen sehr bereitwillig kommen. Die Auswahl aller Adressen überlassen wir dem Zufallsgenerator.

Wichtig ist auch, dass der Einladungsbrief vom Oberbürgermeister kommt und in einer Sprache gehalten ist, die jeder gut versteht. So kommen wir bei 100 Einladungen auf fünf bis zehn Zusagen und im Endeffekt entsprechen die Teilnehmenden dann dem Querschnitt der Bevölkerung.

Am Ende der Workshops sollen Empfehlungen für Politik und Verwaltung stehen. Dazu müssen Sie alle ins Gespräch bringen. Wie klappt das mit derart verschiedenen Menschen?

Meine Lieblingsmethode funktioniert so, dass nur der Moderator und ein einzelner Teilnehmer miteinander sprechen. Erst wenn diese Person nichts mehr zu sagen hat, ist der Nächste dran. So kommen die Stillen zu Wort und man bekommt die verschiedenen Milieus unter einen Hut.

Wichtig ist auch, dass man den Menschen Zeit gibt, damit sie miteinander warm werden und beim Thema ankommen können. Zu sagen: "Das ziehen wir in drei Stunden durch", geht bei derart verschiedenen Menschen nicht.

Haben denn tatsächlich alle Bürgerinnen und Bürger etwas zu sagen?

Aber ja, und jede Sichtweise ist willkommen! Der Hausmeister der Grundschule regt sich auf, dass Mülleimer auf dem Bürgersteig Rad fahrenden Schulkindern den Weg versperren und berührt damit den Punkt "Ordnung und Sicherheit". Der Professor findet, dass sich Filderstadt mehr um die demografische Entwicklung kümmern muss.

Viele Hände liegen übereinander

Das Konzept der Bürgerbeteiligung: Alle reden mit

Wie viele dieser Wünsche und Vorschläge können der Gemeinderat und die Verwaltung umsetzen?

In der Regel betreffen zehn bis 15 Prozent der Vorschläge den tatsächlichen Beteiligungsgegenstand, also beispielsweise den Mobilitätsentwicklungsplan, das Integrationskonzept oder das integrierte Stadtentwicklungskonzept.

Diese zehn bis 15 Prozent werden dann von uns noch mal sortiert, zusammengefasst und zu Empfehlungen verdichtet, die der Gemeinderat annehmen oder ablehnen kann. Wobei er im Fall einer Ablehnung nach den "Spielregeln Bürgerbeteiligung Filderstadt" sehr genau begründen muss, warum er den Empfehlungen der Bürgerbeteiligung nicht folgt.

Was ist mit den anderen Vorschlägen?

Etwa ein Drittel liegt außerhalb der Zuständigkeit der Stadt. Beispielsweise wünschen sich die Menschen bei einer Bürgerbeteiligung zur Stadtteilentwicklung oft saubere Luft, weniger Lärm und mehr Freibäder und Sporthallen. Was immer kommt, sind mehr Grün, weniger Verkehr und bezahlbarer Wohnraum.

Aber ist das nicht frustrierend für die Bürger? Da sitzen sie den ganzen Tag beisammen und am Ende setzen Gemeinderat und Verwaltung nur einen kleinen Teil ihrer Vorschläge um – wenn überhaupt.

Wir setzen mit der Bürgerbeteiligung nicht die Gemeindeordnung außer Kraft. Das verstehen die Bürger auch, und wir machen auch von Anfang an klar, wo die Grenzen der Beteiligung sind und dass die letzte Entscheidung immer der Gemeinderat hat. Das steht im Anschreiben, im Amtsblatt und wird bei der Veranstaltung gesagt. Ich habe jedenfalls in all den Jahren nie Schwierigkeiten bekommen. Dafür ist die Beteiligungskultur bei allen viel zu tief verankert.

Quelle: SWR | Stand: 03.04.2018, 09:15 Uhr

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