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Kindheit in Schutt und Asche
Jedes Kind erlebte diesen Frieden anders, für die einen war es das erste Stückchen Schokolade – für andere das Ende der Verdunkelung, dass man wieder Lichter in den Fenstern sah und abends auf der Straße spazieren gehen konnte. Und alle verband die Hoffnung, dass es bald besser werden würde.
Aus heutiger Sicht ist es nur schwer vorstellbar, wie die Menschen damals lebten. Für seine eigene Tochter und für die Zuschauer der "Sendung mit der Maus" hat Filmautor Armin Maiwald sich daran erinnert, wie er die ersten Nachkriegsjahre als Kind erlebt hat.
Ein Dach über dem Kopf
Das Wichtigste war, ein Dach über den Kopf zu haben. Das war zunächst keine Selbstverständlichkeit. Viele Häuser waren im Krieg zerbombt worden und die Familien mussten eng zusammen rücken. Wer nette Nachbarn oder Verwandte hatte, die noch Platz in ihrer Wohnung hatten, der zog zu denen. Aber das hatte nicht jeder.

Wohnen in Schutt und Asche
Hinzu kamen die vielen Flüchtlinge. In den letzten Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren flohen 14 Millionen Menschen aus den ehemals besetzten Gebieten nach Deutschland, die einen aus Angst, andere wurden evakuiert.
Auch die Familie von Armin Maiwald gehörte zu jenen, die evakuiert wurden. Sie hatten Glück, sie bekamen ein Zimmer zugewiesen. Drei Leute lebten dort: Armin Maiwald, seine Schwester und seine Mutter. Der Platz reichte gerade mal für zwei Betten, einen Schrank, eine Kommode, einen Ofen und einen Tisch mit drei Stühlen.
Andere Evakuierte wurden in Baracken untergebracht oder in Massenunterkünften. Wer so eine Adresse hatte, von dem wusste jeder sofort: Das sind arme Leute. Nicht nur für die Erwachsenen, auch für viele Kinder, die früher in großen Häusern gelebt hatten und immer gut gekleidet gewesen waren, war das keine einfache Umstellung.
Hunger
Eines der größten Probleme der ersten Nachkriegsjahre aber war der Hunger. Es gab so gut wie nichts zu essen. Jeder bekam zwar eine Lebensmittelkarte, aber dass man alles, was auf der Karte stand, auch besorgen konnte, war keinesfalls sicher.
Armin Maiwald hat genau ausgerechnet, wie viel ein Mensch damals täglich zu essen bekommen hätte, wenn er alles auf der Karte bekommen hätte: 8,2 Gramm Fett – etwa einen Löffel voll, 200 Gramm Brot – das waren etwa drei Scheiben, eine für morgens, eine für mittags und eine für abends.
Dann gab es noch einen Teelöffel Marmelade, einen Löffel Kunsthonig, einen halben Löffel voll Streichkäse, 5,7 Gramm Rohrzucker, 8,3 Gramm Haferflocken oder Gries, und tatsächlich Fleisch: 6,6 Gramm genau, also ungefähr eine Gabelspitze voll.

Schulspeisung
Doch oft gab es nicht einmal dies. Deshalb zogen die Familien los, um selber etwas Nahrhaftes aufzutreiben. Meist waren es die Frauen, die ihre Kinder im Schlepptau mitnahmen. Wer etwas anzubieten hatte, wie einen alten Mantel, Silberbesteck oder Rasierklingen, der fuhr aufs Land, um von dort etwas Essbares mit nach Hause zu bringen.
Armin Maiwald ging mit seiner Mutter auf die Felder. Man nannte das auch "stoppeln", wenn die armen Leute nach der Ernte die übrig gebliebenen Ähren aufsammeln durften. Um aus den eingesammelten Ähren etwas Essbares gemacht zu bekommen, mussten sie einen Bauern finden, der verbotenerweise nachts für sie die Körner zu Mehl verarbeitete.
Um die Körner zu transportieren, brauchten sie einen Bollerwagen. Den bekamen sie im Tausch gegen einen Teil des Mehls, und einen anderen Teil behielt der Müller für sich. Am Ende blieb für die Familie gerade mal ein Viertel der eingesammelten Ähren über.
Viel war es wirklich nicht, was die Nachkriegskinder auf den Tisch bekamen, und viele Kinder wären verhungert, wenn es damals nicht die Schulspeisung gegeben hätte. Zum Glück hatten die Schulen ihren Betrieb wieder aufgenommen, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.
Schul-Arbeiten
Wie alle anderen Gebäude hatten auch viele Schulen unter den Bomben gelitten. Fenster gab es nur selten und manchmal fehlten sogar die Schulwände. In Köln mussten die Schüler Ziegelsteine mit in die Schule bringen, wenn sie Unterricht haben wollten. Gemeinsam wurde die Schule dann Stein für Stein wieder aufgebaut.
Einige Schulen aber waren unwiderruflich zerstört, also mussten die Kinder zusammenrücken. 60 Schüler in einer Klasse, wie Armin Maiwald es erlebt hat, waren durchaus keine Ausnahme.
Papier gab es fast gar keins, und zum Schreiben nur Bleistifte oder Griffel, mit denen man auf eine Tafel schreiben konnte. Trotzdem brauchten die Kinder eine geräumige Schultasche, denn neben dem Teller für die Schulspeisung, Stift und Tafel mussten sie im Winter auch noch ein Stück Holz oder Ähnliches in der Tasche unterkriegen.
Der erste Nachkriegswinter war bitterkalt. Wenn die Schüler in den Klassen nicht erfrieren wollten, musste geheizt werden. Um genügend Heizmaterial zusammenzubekommen, wurden die Schüler angehalten, selber etwas mitzubringen. Wie sie daran kamen, das war beinahe egal. Viele Kinder sammelten irgendein brennbares Material auf dem Weg zur Schule ein.
Die Chance unterwegs etwas aufzutreiben war gar nicht so schlecht, denn der Schulweg zahlreicher Kinder war oft über eine Stunde lang, weil die Nachbarschule zerbombt und der öffentliche Verkehr zusammengebrochen war.
Verbotenerweise gingen sie zu den Bahngleisen, wo Kohletransporter vielleicht etwas verloren hatten oder suchten in den Ruinen der zerbombten Häuser nach einem Stück Holz oder Ähnlichem.

Ein Junge sammelt vom Lastwagen gefallene Kohlenreste auf
Dass man für das Beheizen öffentlicher Räume selber zuständig ist, mag uns heute eigenartig vorkommen, es hielt sich allerdings noch eine ganze Weile. Noch in den fünfziger Jahren war es in manchem Kino und mancher Tanzschule üblich, dass man zusätzlich zum Eintrittsgeld auch noch sein eigenes Brikett mitbrachte.
Spielen in Schutt und Asche
Auch die Freizeit der Nachkriegskinder sah für viele Jahre anders aus, als spätere Generationen sie erlebt haben. Oft halfen die Kinder den Eltern beim Schlangestehen vor den Geschäften, beim "Stoppeln" in den Feldern oder beim Haushalt, falls die Mutter arbeiten ging. Viele Kinder mussten den zweiten Elternteil ersetzen und sich um die jüngeren Geschwister kümmern.
Zweieinhalb Millionen Kinder hatten nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch ein Elternteil, das war ein Viertel aller Kinder. Diese "Schlüsselkinder" hatten nur wenig Zeit zu spielen, wenn sie von der Schule nach Hause kamen. Aber dafür hatten sie den größten Abenteuerspielplatz, den man sich vorstellen kann: die Ruinen der zerstörten Städte.
Ganze Straßenzüge standen ihnen zur Verfügung. Wo früher 50 Häuser gestanden hatten, waren vielleicht noch zwei übrig geblieben. Dass das Spielen dort lebensgefährlich war, kümmerte kaum jemanden und die Kinder schon gar nicht. Ihnen machte es Spaß, Mauern umzustoßen oder nach wertvollen Schätzen Ausschau zu halten.
Während der Kriegszeit hatten die Kinder nach Bombenangriffen Granatsplitter gesammelt, jetzt waren sie auf der Suche nach Verwertbarem. Brennmaterial war in den ersten Jahren von unschätzbarem Wert, doch auch für gusseiserne Rohre, die einmal für die Sanitäranlagen gedacht waren, zahlten Altwarenhändler bald gute Preise.
Und wer sich traute, mit Hilfe seiner Kletterkünste auf den obersten Stock eines ausgebombten Hauses zu gelangen, konnte sich wie ein König fühlen. Ob es um das Essen ging, die Kleidung oder das Spielen – die Maßstäbe hatten sich geändert, man freute sich wieder über Kleinigkeiten.
Stand: 23.03.2020, 13:25