Erdmännchen sitzen mit ihrem Nachwuchs in der Stuttgarter Wilhelma im Gehege.

Familie im Wandel

Evolution und Familie

Wir sind alle Teil einer Familie. Das ist manchmal schön, manchmal anstrengend – und vor allem eine wichtige Erfindung der Natur.

Von Christiane Gorse

Keim der Familie: die mütterliche Fürsorge

Primatenforscher und Anthropologen erforschen seit Langem die Ursprünge der Familie. Ihre Erkenntnis: Den Menschen würde es nicht geben, wenn in der Evolution nicht Lebewesen entstanden wären, die begannen, in Familienstrukturen zu leben.

Die Fürsorge der Mütter ist eine sehr alte Erfindung der Natur. Schon vor rund 700 Millionen Jahren kümmerten sich Reptilien und Fische um ihren Nachwuchs, sogar wirbellose Tiere ließen ihre Kleinen nicht einfach allein.

Dass zur Mutter-Kind-Verbindung noch jemand Drittes kommt, kennt man erst von Vögeln. Die Rolle der Väter geht hier sogar recht weit: Sie können das Brüten mit übernehmen, besorgen Futter für die Kleinen und schützen das Territorium.

Bei Säugetieren ist die Variante Mutter-Kind plus Drittem bis heute eher wenig verbreitet – schließlich kann ein drittes Lebewesen schlecht zum Überleben des Säuglings beitragen. Dieser ist auf das milchgebende Muttertier angewiesen.

Bei vielen Säugetieren spielt der biologische Vater kaum eine Rolle. Die männlichen Tiere sind eher "Satelliten", die in der Paarungszeit und danach lediglich Futter für das Muttertier besorgen.

Das soziale Gerüst einer Gruppe bilden die Weibchen. So bleiben in der Regel auch die weiblichen Jungtiere bei ihren Müttern, während die Männchen bei Geschlechtsreife die Gruppe verlassen.

Gemeinsame Jungenaufzucht

Bei einigen Säugetieren gibt es aber noch andere Helferinnen: die weiblichen Verwandten. Die helfenden Geschwister, Tanten und Großmütter gibt es beispielsweise bei den Alpenmurmeltieren, den Erdmännchen oder den Elefanten.

Bei den Primaten ist die gemeinsame Jungenaufzucht erstaunlicherweise wenig verbreitet. Selbst die Schimpansen, die genetisch gesehen den Menschen am ähnlichsten sind, werden aggressiv, wenn ein Artgenosse ihrem Jungen zu nahe kommt. Sie tragen und säugen ihr Junges ganz allein.

Anders die Krallenaffen – eine kleine Affenart, die vor allem in Südamerika lebt. Die Männchen der Gruppe, aber auch die untergeordneten Weibchen und älteren Geschwister, beteiligen sich intensiv an der Jungenaufzucht. Sie tragen die Jungtiere, beschäftigen sich mit ihnen und übergeben sie der Mutter nur zum Säugen.

Dieses Verhalten hat den Züricher Primatenforscher Carel van Schaik zu einem interessanten Experiment veranlasst: Er ließ zwei Krallenaffen in zwei Käfige nebeneinander setzen. Der eine Affe konnte an einem Brettchen ziehen, auf dem sich für den anderen Affen ein Mehlwurm befand. Er selbst hatte nichts davon, nur sein Nachbar kam durch sein Tun an Futter.

Nur ein empathiefähiges Lebewesen, das sich in andere hineinversetzen kann – so die These des Forschers – würde für den anderen das Futter herbeiziehen. Und das Krallenäffchen verhalf seinem Käfignachbarn zu der kleinen Mahlzeit, und das immer und immer wieder. Ein Verhalten, das selbst Menschenaffen nicht an den Tag legen.

Drei Schimpansen (davon ein Jungtier) kommunizieren.

Menschenaffen haben ein ausgeprägtes Sozialleben

Primaten und Urmenschen

Die gemeinsame Jungenaufzucht und die Empathie – das sind die Fähigkeiten, die nach Auffassung der modernen Anthropologie die Menschen von den Menschenaffen unterscheiden. Mit enormen evolutionären Vorteilen: Das kleine Krallenaffenweibchen wird so sehr entlastet, dass es zweimal im Jahr Nachwuchs bekommen kann.

Die Schimpansen, die alles allein machen, bekommen erst wieder Nachwuchs, wenn das letzte Junge nach mehreren Jahren selbstständig geworden ist. Anders bei den Menschen: Sie können – wie die Krallenäffchen – viel früher wieder schwanger werden und ein weiteres Geschwisterchen aufziehen. Und zwar nur, weil andere ihnen bei der jahrelangen Aufzucht helfen.

Dazu kommt der soziale Verbund, der viele kognitive Fähigkeiten erfordert. Das Baby und Kleinkind muss nicht nur lernen, eine einzige Beziehung – etwa die zur eigenen Mutter – zu erfassen, sondern außerdem die Beziehung zu anderen Gruppenmitgliedern sowie die anderer Gruppenmitglieder untereinander.

Deshalb muss das menschliche Gehirn deutlich größer sein als etwa das eines Schimpansen. Und vor diesem Hintergrund verwundert es kaum noch, dass das evolutionshistorisch jüngste Gehirnareal beim Menschen der Neokortex ist, dort wo die Empathie sitzt.

An der Schwelle zur Menschwerdung stand also eine neue Organisation des Gehirns. Das Gehirn wurde größer, die Urmenschen wurden intelligenter. Aber es war eine soziale Intelligenz, die durch Kooperation entstand. Die Innovation der ersten Menschen war demnach nicht die Arbeitsteilung oder der Umgang mit Werkzeug, sondern die Jungenaufzucht.

Rein biologisch war die Kooperation sogar überlebenswichtig, denn durch ihren aufrechten Gang und den großen Kopf der Babys war es den Urfrauen kaum mehr möglich, alleine zu gebären. Sie brauchten eine Hebamme. Ohne gegenseitige Hilfe hätte der Mensch gar keine Chance gehabt.

Eine junge Frau im rosa Top hält ihren schlafenden Säugling im Arm und kuschelt liebevoll mit ihm.

Mehr Nachwuchs, weil andere helfen

Die ersten Familienstrukturen

Anders als die klassische Evolutionslehre nach Darwin gehen die Anthropologen heute davon aus, dass die frühen Sippen zwar alle voneinander abstammten – also im Prinzip eine große Familie waren –, aber nicht patriarchalisch organisiert waren, sondern "matrifocal". Das heißt: Die Frauen trafen zwar keine politischen Entscheidungen, organisierten aber das Gruppenleben.

Diese frühen Gesellschaften waren weder durch Kernfamilien noch durch monogame Beziehungen geprägt. So trafen die Männer ihre Entscheidungen nicht etwa zu Gunsten ihrer Nachkommen – denn sie konnten ja gar nicht mit Sicherheit wissen, welche Kinder tatsächlich ihre waren. Sie entschieden zu Gunsten ihrer Herkunftsfamilie.

Das änderte sich erst in der Jungsteinzeit, als die Menschen sesshaft wurden. Denn mit der Sesshaftigkeit entstand erstmals Besitz. Das Land, das Vieh, das Haus, die Geräte wollte der Mann aber seinen Kindern vererben. Erst dadurch entstand die Notwendigkeit, ganz sicher zu wissen, wer die eigenen Nachkommen waren. Und das Vererben ist bis heute etwas evolutionär Sinnvolles, denn wer aus dem Vollen schöpfen kann, hat auch heute noch einen Vorteil im Leben.

Quelle: SWR | Stand: 17.03.2020, 17:20 Uhr

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