verschwommene Ansicht Gespräch Gutachter.

Psychologische Gutachten

Wie gut arbeiten Gutachter in Deutschland?

Prof. Niels Habermann ist Gerichtsgutachter. In seinem Berufsalltag hat er mit Menschen zu tun, die schwere Straftaten begangen haben wie Raub, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch, Mord und Totschlag. Neben seiner Arbeit als Gutachter ist er Professor für Psychologie und bildet junge Menschen aus. Dafür gründete er an der SRH Hochschule Heidelberg den Studiengang Rechtspsychologie.

Von Andrea Wieland

Planet Wissen: Sie arbeiten als Gerichtsgutachter und beschäftigen sich hauptsächlich mit Sexual-, Gewalt-, Tötungsdelikten. Wie kam es ausgerechnet zu dieser Berufswahl?

Prof. Niels Habermann: Ich hatte schon als Student, Mitte der 1990er Jahre, Interesse an den Ursachen von Straftaten und ob und wie man dem vorbeugen kann. An meiner Uni lehrte ein damals sehr anerkannter Forensischer Psychiater [Professor Johann Glatzel].

Ich durfte ihn häufig in Gefängnisse, Kliniken und Gerichtsverhandlungen begleiten und bald auch an Fällen mitarbeiten und beispielsweise psychologische Tests durchführen. Ich habe in den letzten beiden Jahren meines Studiums im Grunde nichts anderes mehr gemacht und bin dann dabei geblieben.

Ist das die klassische Berufslaufbahn eines Gutachters: Studium und viele Praktika?

In unserer Branche hat man normalerweise Psychologie oder Medizin studiert und sollte danach – oder am besten schon währenddessen – eine Spezialisierung vorgenommen und mehrere Jahre praktische Erfahrung gesammelt haben. Das ist aber nicht gesetzlich geregelt, auch wenn die Sektion Rechtspsychologie des psychologischen Berufsverbandes immer wieder auf die Wichtigkeit einer entsprechenden Qualifikation hinweist.

Wo ist festgelegt, welche Qualifikation ein Gutachter haben muss?

Im Strafrecht haben wir seit gut zehn Jahren Mindestanforderungen, an denen sich alle orientieren können. Im Familienrecht gibt es solche Standards erst seit Kurzem auf Betreiben des Berufsverbandes. Da tummeln sich nachweislich noch eine Menge Gutachter, die aus Bereichen kommen, die sie nicht für diese Tätigkeit qualifizieren – zum Beispiel aus dem sozialpädagogischen Bereich.

Vor dem Familiengericht sollen auch Erzieher und Heilpraktiker als Gutachter eingesetzt werden. Wie kann das sein?

Weil es bis heute keine klaren gesetzlichen Regelungen gibt, die genau definieren, wer in welchem Bereich unter welchen Voraussetzungen Gutachten erstellen darf. Der Richter benennt den Gutachter.

Sie haben einige Jahre in der Schweiz gelebt. Wie ist es dort?

In der Schweiz gibt es bei Entscheidungen über Verwahrungen oder Entlassungen von Hoch-Risiko-Tätern kantonale Expertengruppen, die sich gemeinsam beraten. Dort ist die Durchlässigkeit von Maßnahmen besser geregelt.

Ein Beispiel: Man stellt fest, dass ein Gefangener eigentlich besser in einer Klinik behandelt werden müsste, um seine Gefährlichkeit zu reduzieren. Dann wird eine Verlegung vorgenommen, was in Deutschland relativ schwierig ist. Auf der anderen Seite sind in der Schweiz die Psychologen den Psychiatern im Bereich der Gutachtenerstellung deutlich nachgeordnet.

Das Erstellen eines Gutachtens erfolgt in Deutschland durch eine Person. Ist das in ganz Europa so?

Teilweise werden Gutachten von vornherein nicht nur von einem, sondern von mehreren Gutachtern erstellt. Oder in schwierigen Fällen werden mehrere Gutachter beauftragt, die dann kontrovers diskutieren. Das Gericht muss sich dann überlegen, was sie mehr überzeugt.

Das konnte man in Norwegen im Fall Breivik gut sehen: Zuerst diagnostizierten zwei Psychiater eine Schizophrenie und gingen von einer Unzurechnungsfähigkeit aus. Danach sahen zwei Psychologen "nur" eine Persönlichkeitsstörung und hielten ihn für zurechnungsfähig, was wiederum eine rechtsmedizinische Kommission als falsch ansah. Letztlich wurde Breivik aber als nicht geisteskrank beurteilt und in der Haft untergebracht.

Gibt es in Deutschland ein ähnliches Beispiel für eine Kontroverse unter Gutachtern?

Ja, im Fall des "Kannibalen von Rothenburg", in dem es um die Frage einer sexuellen Präferenzstörung beziehungsweise einer Perversion ging. Oder zuletzt im Fall Beate Zschäpe: Ein von Seiten der Verteidigung beauftragter Sachverständiger bescheinigte eine dependente [abhängige] Persönlichkeitsstörung, wegen der sie vermindert schuldfähig sei. In der Verhandlung stellte sich dann heraus, dass dieser Psychiater überhaupt keine Ahnung von forensischer Begutachtung hatte. Er wurde wegen Befangenheit abgelehnt.

Gustl Mollath bei der Entlassung aus der Psychiatrie.

Gustl Mollath bei der Entlassung aus der Psychiatrie

Sind Gutachter und Richter vorsichtiger geworden nach den Fällen Gustl Mollath oder Jörg Kachelmann?

In den letzten Jahren gewinnt das Thema Qualität von Gutachten und die Kompetenz der Gutachter zunehmend an Relevanz. Auch in der Öffentlichkeit, auch aufgrund von Falschgutachten und natürlich aufgrund von spektakulären Fällen wie Jörg Kachelmann, Gustl Mollath, Beate Zschäpe oder aktuell im Fall Höxter, wo ein bis dahin renommierter Gutachter sich offenbar von den Regeln unserer Zunft sehr weit entfernt hat. Im Grunde ist das aber keine neue Debatte.

Im Jahr 2012 haben Sie einen neuen Studiengang ins Leben gerufen: Rechtspsychologie. Das klingt nach viel Theorie.

Nicht nur. Wir nehmen die Studierenden mit ins Gefängnis, in den Gerichtssaal, in Kliniken. Man muss so früh wie möglich reale berufliche Situationen kennenlernen. Und erleben, wie es ist, selbst im Gefängnis eingesperrt zu sein und kein Smartphone mehr in der Hand zu haben. Oder wenn man auf Toilette muss, erst mal jemanden fragen zu müssen.

Und vor allem jemandem gegenüberzusitzen, der einen anderen Menschen, vielleicht sogar einer Person, die mir ähnelt, Verletzungen zugefügt hat. Wie fühlt sich das an? Wie gehe ich damit um? Das muss man lernen und reflektieren, um diese Situationen professionell gestalten zu können.

Warum ist das so wichtig?

Das Gutachterhandwerk lässt sich nicht alleine aus Büchern lernen. Es ist tatsächlich eine Erfahrungswissenschaft. Es geht bei Gutachten eben nicht nur um Fach- und Methodenwissen, sondern genauso um Selbst- und Sozialkompetenz.

Wer zählt zu Ihren Studenten?

Viele kommen erst mal mit Vorstellungen aus Kriminalromanen oder -filmen und auch ein bisschen Abenteuerlust. Deshalb sind uns am Beginn Gespräche sehr wichtig, um zu erfahren, was steckt noch dahinter, was gibt es für Vorstellungen vom Beruf, Vorerfahrungen, Ressourcen.

Die meisten interessieren sich dann im weiteren Verlauf für die klinische Arbeit mit straffälligen Menschen, für Kriminalprognosen oder Glaubhaftigkeitsbeurteilungen, oder für die Arbeit der Polizei, die ja  auch zunehmend Psychologen einstellt.

Prof. Niels Habermann und seine Studenten in einem Seminarraum.

Prof. Niels Habermann und seine Studenten in einem Seminarraum

Wenn Sie zurückdenken: Wie waren Ihre ersten Begutachtungen?

Ich darf im altersbedingt milden Rückblick auf meine damalige naive Begeisterung so offen sein – sie verliefen sehr schwierig. Meine Exploranden begannen, psychische Störung hin oder her, meine Unerfahrenheit schnell zu erkennen und drehten den Spieß um – befragten mich.

Ich musste mir eingestehen, dass es viel schwieriger war, als es bei meinen Lehrern aussah. Deshalb meine ich, dass praktische Übungen, zum Beispiel vorbereitende Rollenspiele, und im nächsten Schritt die Begleitung erfahrener Gutachter zu Untersuchungen mit Möglichkeit zur Beteiligung, bereits im Studium einen festen Platz haben müssen. 

Ihr Studium haben Sie vor fast 20 Jahren abgeschlossen. Sie sind routiniert. Wie erkennt ein Jurist einen geeigneten Gutachter?

Es gibt sowohl von Seiten der Rechtspsychologen als auch von den Forensischen Psychiatern ein Register, in dem alle zertifizierten Gutachter aufgeführt sind. Diese Register stehen im Internet und das Fachpsychologen-Register liegt mittlerweile auch in gedruckter Version vor.

Das sollten die Juristen konsequenter nutzen. Bei schwierigen und öffentlichkeitswirksamen Fällen sollte dann mehr der Grad der Erfahrung – und zwar möglichst bei verschiedenen Gerichten und mit verschiedenen Fragestellungen – einen stärkeren Stellenwert bei der Wahl des Gutachters haben. Insofern wäre es sinnvoll, die bestehenden Register noch zu ergänzen.

Wie wollen Sie die Juristen dazu kriegen?

Ich biete den Justizbehörden Fortbildungen an und erkläre beispielsweise, welche Mindestanforderungen ein gutes Gutachten erfüllen muss. So gebe ich ihnen einen Maßstab an die Hand, was sie von einem Gutachten erwarten dürfen beziehungsweise auf keinen Fall akzeptieren sollten. Ich denke, eine bestimmte Anzahl an Fortbildungen für Juristen, gerade für neue, sollte verpflichtend sein. Es geht schließlich um menschliche Schicksale.

Quelle: SWR | Stand: 20.06.2018, 12:00 Uhr

Darstellung: