Ein halbes Jahrhundert Zirkus-Leidenschaft
Immer auf dem Sprung, immer präsent, das Handy immer bereit: Das ist die eine Seite von Bernhard Paul. Die andere: Ruhe und Gelassenheit. Freundlich und charmant erzählt er: Bereits bei der allerersten Zirkusvorstellung, die er als kleiner Junge in dem österreichischen Ort Wilhelmsburg besuchte, habe ihn die Leidenschaft gepackt.
Da waren sie, in dem kleinen unscheinbaren Zelt: die Feuerschlucker, die Ballerina auf dem Seil, Pferde, Elefanten – und der Clown. Im Hintergrund knarrte ein alter Plattenspieler mit Zirkusmusik. Es roch nach frischem Heu und Sägespänen. Das alles machte seine Welt erstmals bunt und farbenfroh. Eine Welt, die er als Arbeiterkind nicht kannte.
Er erzählt von den Eisengießern, deren Gesichter nach Schichtende schwarz waren, und von den Arbeitern in den Porzellanfabriken, deren Gesichter sich am Ende des Tages weiß gefärbt hatten.
Als dann der Zirkus das Dörfchen verließ, tat das richtig weh, sagt Bernhard Paul. Selbst heute, fast ein halbes Jahrhundert danach, blickt er etwas traurig, wenn er davon erzählt.
"Das schaffe ich!"
Geboren wurde Bernhard Paul am 20. Mai 1947 in Niederösterreich. Nach der Grundschule kam er als 13-Jähriger ins Internat. Dann folgten: Abitur, ein Hoch- und Tiefbau- sowie Grafik-Studium, Arbeit als Art Director für ein österreichisches Nachrichtenmagazin.
Doch trotz des beruflichen Erfolgs kreisten seine Gedanken immer wieder um die fernen Zirkus-Erinnerungen aus Kindertagen. "Es war so stark in mir", sagt er, "dass ich es einfach tun musste, und eine Stimme sagte mir: 'Das schaffe ich'." Mit dieser Zuversicht und ein wenig Geld gründete er 1974 seinen eigenen Zirkus.
Ein gewagtes Spiel, wie er heute einsieht. Denn in den 1970er-Jahren steckte der Zirkus in einer tiefen Krise : Alles Alte, Romantische, das für Bernhard Paul den idealen Zirkus ausmacht, war abgeschafft. Statt Lichterketten gab es Neonröhren, die Künstlerinnen sahen aus wie aus dem Eros-Center, der Samtvorhang musste Plastik weichen. Es ging nur noch um "größer, schneller, weiter". Kaum jemand besuchte noch den Zirkus, viele Zirkusunternehmen mussten schließen.
Bernhard Paul wollte die Menschen wieder zum Träumen verführen. "Ich war mir sicher: Ein Zirkus-Programm wirkt langweilig, wenn es keine Geschichte gibt, in die die Besucher abtauchen können. In einer modernen Welt kann man das nicht." Daher haben seine Programme auch eine eigene Dramaturgie.

Hochseilakrobatik im Circus Roncalli
Aus der Traum?
Ein alter Zirkuswagen sollte es sein, kein neuer Hochglanz-Caravan aus Plastik. Darauf legte er Wert, als der Zirkusnarr Bernhard Paul 1976 mit einem völlig neuen Konzept den "Circus Roncalli" gründete. Gemeinsam mit dem Künstler André Heller, der als Texter und Regisseur mit ihm zusammenarbeitete, präsentierte er eine neue Idee vom Zirkus: Poesie, Fantasie, Illusionen und Theater. Titel: "Die größte Poesie des Universums".
Aber es klappte nicht. Zu neu, zu anders für viele Menschen. Noch während der Tournee kam das Aus. Dazu die Trennung von André Heller. Dazu finanzielle Probleme. Sein gesamter Zirkus sollte gepfändet werden. In einer Nacht- und Nebelaktion konnte er seine Zirkuswagen bei starkem Schneefall auf der Großbaustelle des Schlachthofes von St. Marx in Österreich verstecken.
Aus der Traum? "Nein, das existiert bei mir nicht", sagt Paul, lehnt sich entspannt zurück und erzählt weiter: "Ich weiß auch nicht, wo das herkommt, aber wenn ich wirklich etwas will, dann habe ich es meist auch bekommen. Ich habe mir mal eine Gitarre von George Harrison gekauft. Da fehlte so eine kleine Schraube, die es nur für dieses Modell gab. Es ist fast unmöglich, so was zu bekommen. Ich habe sie auf der ganzen Welt gesucht. Und dann, auf einem niederländischen Trödelmarkt, habe ich sie entdeckt.
Solche Dinge habe ich schon ganz oft erlebt, und deshalb habe ich auch damals, als ich fast völlig pleite war, weitergemacht. Ich habe gespürt: Das musst du jetzt machen, und das wird auch klappen. Anders kann ich das nicht beschreiben."

Clown Pic mit seiner Seifenblasennummer
"Wichtig ist mir, dass ich Zirkus machen darf"
Bernhard Paul biss sich durch: als Elektriker, Schlosser, Maler und Lackierer – und Musiker. Mit seinem "Roncalli-Panoptikum" zog er über Volksfeste und Jahrmärkte. Er verdiente genug Geld, um seinen Zirkus aus Österreich zurückzuholen. Mit dem Kabarettisten Emil Steinberger wagte er 1980 den Neubeginn mit dem Programm "Reise zum Regenbogen": der Durchbruch.
"Ich wollte mit dem Programm ein Märchenbuch aufschlagen", sagt er, "und ich habe es auch getan". Deshalb musste auch alles zusammenpassen. Nicht nur die Show im Zelt – auch davor musste alles stimmen. "Das begann schon damit, dass wir, anders als andere Zirkus-Veranstalter, mitten im Zentrum der Städte spielten. Das konnten wir auch besser, weil wir nicht so groß waren und nicht so viele Tiere unterbringen mussten. Dazu wurden die alten Wohnwagen schön hergerichtet."
Ganz wichtig war es Paul, die Besucher schon am Eingang in die Traumwelt mitzunehmen. Artisten begrüßten das Publikum. Es flogen Konfetti und Seifenblasen. Kinder und Erwachsene wurden im Gesicht bemalt. "Die Menschen liebten das, dieses Gefühl von Melancholie, Sanftheit und Verträumtheit", sagt Paul.
"Ich glaube, sie spürten auch, dass wir die Menschen mochten und nicht das Geld, das sie an der Kasse für die Vorstellung ausgaben. Und dazu stehe ich auch. Mir ist das Geld nicht wichtig, das ich mit dem Zirkus verdiene. Wichtig ist mir, dass ich Zirkus machen darf."
Und dazu gehört für Paul ein Clown. Seine Lieblingsfigur, die er als "Clown Zippo" selber spielt. In den großen karierten Hosen, mit roter Knollennase und weißer Schminke verschwindet er während der Vorstellung in seiner eigenen Welt – hier findet er Ruhe und Entspannung.

Im Panoptikum gibt es traditionell Wachsfiguren zu bestaunen
Nicht auf andere herabsehen
"Der Erfolg, den wir mit der 'Reise zum Regenbogen' hatten, hat mir gezeigt, dass es im Leben immer wichtig ist, etwas mit Leidenschaft zu tun und dabei nicht an das Geld zu denken. Nicht oben zu stehen und auf andere herabzusehen", erzählt Bernhard Paul.
Und so erzieht er auch seine drei Kinder. Vivien, Adrian und Liliane sind inzwischen alle begeistert im Zirkus engagiert. Ohne das Wissen des Vaters haben sie ihre erste gemeinsame Zirkusnummer auf die Beine gestellt. "Damit er es nicht schon im Vorfeld verbietet", meinen die drei lächelnd. Bernhard Paul ist stolz auf seine Kinder und hofft, dass sie auf ihrem Weg mit Roncalli auch so viel Erfüllung und Erfolg haben werden wie er.
"Ich bin bisher so gut durchs Leben gekommen. Auch wenn es manchmal schwierig war. Denn auch ich musste darüber nachdenken, dass der Riesenerfolg, den ich mit der ’Reise zum Regenbogen’ hatte, einmal endet. Und das muss man machen, wenn man auf dem Höhepunkt angekommen ist. Ich musste mich praktisch immer wieder neu erfinden."
Bernhard Paul probierte immer wieder etwas Neues: Es folgte eine Fernsehserie über den Zirkus mit Inge Meysel und Eddie Constantine. Sein Zirkus gastierte als erster Zirkus in Moskau.
Mit seiner gefühlvollen Unterhaltung begeisterte er so, dass es danach in den russischen Zirkusschulen ein neues Fach gab: Roncalli. 1993 präsentierte Roncalli nach mehreren Folgen der "Reise zum Regenbogen" mit "Commedia dell'Arte" ein neues Programm. In Düsseldorf etablierte Paul das Varieté-Theater "Apollo".

Bernhard Paul als Clown Zippo
Nächstes Ziel: ein "Nostalgie-Park"
Und was kommt jetzt? "Tja, einen großen Traum habe ich noch vor Augen: einen kleinen Park. Da soll alles rein, was ich in meinem Leben gesammelt habe." Und das ist nicht wenig. Denn Bernhard Paul besitzt die größte Zirkus- und Nostalgie-Sammlung Europas. Alles Originale: Kernseife, Kaiser Wilhelm-Zigarren, Stummfilm-Kino, alte Kaffeemaschinen, Kostüme, Plakate, Zinnfiguren, Schränke, Vitrinen, Figuren und Kurioses.
"Ich kann einfach nichts wegwerfen", sagt er. Er habe all diese Sachen gekauft, um sie zu retten, denn das Schöne und Liebenswerte sterbe aus. Und das tut ihm weh.
Heute will er auch andere Menschen daran teilhaben lassen. Einen Namen hat er auch schon für seinen "Nostalgie"-Park: "Boulevard of Broken Dreams". Eine Stadt mit Schiffsschaukeln, Riesenrädern, Tante-Emma-Läden, freundlichen Verkäufern, eine Stadt ohne Ämter und Steuerbescheide. Dazu ein Kassenhäuschen wie aus der Kaiserzeit. Hier gibt es dann die Eintrittskarte in eine neue heile Welt.
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 15.08.2018)
Quelle: WDR