Mann massiert schmerzenden Muskel in der eigenen Schulter.

Bewegung

Myoreflextherapie

Chronische Kopfschmerzen, verspannter Nacken und ewige Rückenschmerzen können schnell zermürben. Schmerzmittel lindern die Symptome, beheben aber nicht die Ursache. Die Myoreflextherapie versucht, ohne Medikamente zu helfen.

Von Monika Sax

Muskeln steuern unser Leben

656 Muskeln in unserem Körper arbeiten rund um die Uhr: laufen, arbeiten, blinzeln, atmen, lachen, reden. Ohne sie ginge nichts. Viele steuern wir bewusst, andere bewegen sich auch, ohne dass wir an sie denken – wie der Herzmuskel.

Und sie sind Teamplayer: Verkürzt man den Bizeps-Muskel im Oberarm, beugt sich der Arm und der auf der Rückseite liegende Trizeps wird gestreckt. Das funktioniert auch umgekehrt, wenn man den Arm streckt.

Wenn das Zusammenspiel der Muskeln nicht mehr funktioniert und die Belastung bestimmter Muskeln schmerzt, versucht der Körper, diesen Fehler auszugleichen. Man nimmt automatisch eine Schonhaltung ein, die die betroffenen Muskeln zwar entspannt, dafür aber an anderen Stellen zu Verspannungen und Schmerzen führen kann.

Muskeln unter Spannung

Hier kommt die Myoreflextherapie ins Spiel: Um überspannte Muskeln zu erkennen, tastet ein erfahrener Myoreflextherapeut das Muskelsystem des Körpers ab und findet so heraus, welche Muskeln – auch in Ruhe – besonders angespannt sind. Hat er diese gefunden, erhöht er den Druck auf den gedehnten Muskel so lange, bis sich dieser entspannt.

"Man kann jeden Muskel dort, wo er an den Knochen ansetzt, anfassen", erklärt der Myoreflex-Spezialist Markus Rachl. "Dort sitzt sein Spannungsmelder. Und an diesem Spannungsmelder erhöht man per Fingerdruck die Spannung."

Seine Patienten beschreiben das meist als schmerzhaft. Denn Rachl verstärkt den Druck so lange, bis dem Gehirn bewusst wird, welcher Muskel nachgeben und entspannen muss. Ist diese Schwelle erreicht, wird der Muskel in Sekundenschnelle weich.

Durch diese Druckpunktstimulation wird die ohnehin schon überhöhte Spannung im Muskel so hoch, dass der Körper automatisch gegenreguliert. Dies ist das Prinzip der Übersteuerung. Es wird ein Reflex ausgelöst, der zur Lösung der Spannung führt. Ist die Spannung gelöst, lassen Beschwerden oft sehr schnell nach.

Manchmal geht es dem Patienten schon nach einer Sitzung besser, bei schwerwiegenderen Erkrankungen wie Bandscheibenvorfällen sind mehrere Sitzungen notwendig.

Modell einer Wirbelsäule mit Bandscheiben.

Die Bandscheiben sind die Stoßdämpfer der Wirbelsäule

Rückenschmerzen sitzen im Bauch

Eine Kernidee der Myoreflextherapie ist, dass der Schmerz oft nicht dort auftritt, wo er herkommt. "Früher", meint Physiotherapeut Markus Rachl, "haben wir völlig falsch behandelt."

Vor 20 Jahren habe die Physiotherapie noch versucht, die Muskulatur zu kräftigen. "Wir haben die Leute teilweise so lange trainiert, bis sie gelähmt waren. Und dann haben wir gesagt: Sie haben zu wenige Übungen gemacht!"

Mit dieser Art der Therapie hat er selbst schmerzhafte Erfahrungen machen müssen. Schon als Jugendlichen quälten ihn starke Rückenschmerzen. Mit 18 kam er kaum noch aus dem Bett.

Nach ärztlicher Empfehlung durfte er nichts mehr heben, das schwerer als fünf Kilo war, und nur im Wechsel sitzend, stehend und laufend arbeiten. Mit 20 Jahren empfahl ihm ein Gutachten, Frührente zu beantragen. Er schaffte es, weiter zu arbeiten – aber es war ein Leben mit Schmerzen.

Mit 35 Jahren wurde dann schlagartig alles anders: In einem Kurs über Heilen durch Handauflegen erhöhte die Kursleiterin den Druck auf Rachls Steißbein und spontan erinnerte er sich an einen Zwischenfall in der dritten Klasse: "Plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich in der dritten Klasse eine Treppe runterlief und mir da einer in den Rücken gesprungen ist. Damals hat der Rückenschmerz angefangen. Das hatte ich völlig vergessen."

Aber sein Körper erinnerte sich, seine Muskeln in Bauch und Rücken waren seit diesem Vorfall extrem angespannt und die Muskelstärkungstherapien machten alles noch schlimmer. Erst als Rachl nach und nach anfing, die Muskeln zu entspannen, ging es ihm besser.

Heute ist er schmerzfrei und arbeitet auch als Therapeut anders als früher. Heute untersuchen Rachl und seine Kollegen bei Rückenschmerzen den Bauchraum. Denn genau dort haben viele Patienten eine sehr hohe Spannung. Bringt man die Muskeln im Bauch oder im Hüftbeuger durch Druckpunktstimulation zur Entspannung, lassen die Schmerzen im Rücken häufig schnell nach.

Mit einem Thera-Band können gezielt Muskeln aufgebaut werden

Beweglichkeit ist nicht nur eine Frage des Alters

Muskeln heilen Traumata

Auch ein traumatisierendes Ereignis kann durch die richtige Muskelbehandlung geheilt werden – allerdings nur in Kombination mit einer Psychotherapie. Unser Körper besteht etwa beim Mann zu 40 Prozent und bei der Frau zu 23 Prozent aus Muskeln, die alle vom Gehirn gesteuert werden.

In traumatisierenden Situationen, wie Überfällen oder auch Vergewaltigungen, möchte der Körper reagieren, kann es aber oft nicht – durch angedrohte oder tatsächliche Gewalt oder Angst. Der Myoreflextherapeut spricht von "unterbrochenen Handlungen": Die Muskeln sind in ihrer Reaktion erstarrt. Oder sie konnten nur einen kleinen Teil der eigentlich gewollten Bewegung ausführen – zum Beispiel einer Schutz- oder Abwehrbewegung – und wurden dann gezwungen aufzuhören.

Wie zum Beispiel bei einem Raubüberfall. Normalerweise wehrt man sich bei einem Angriff mit Händen und Füßen. Doch diese Reaktion kann unterbrochen werden, wenn das Gehirn aufgrund einer vorgehaltenen Waffe entscheidet, dass die Gefahr zu groß ist, um zu reagieren.

Das kann dazu führen, dass die Muskeln in Arm und Bein so stark angespannt werden, dass sie sich nicht mehr bewegen und gelähmt sind. Für den Überfallenen ein psychisches Trauma, das sich im Muskelsystem widerspiegelt.

Die Trauma-Muskeltherapie nutzt diesen Zusammenhang zwischen Körper und Geist: Denn der Körper hat sich gemerkt, was das Unterbewusstsein verdrängt. Durch die Stimulation von Druckpunkten werden Erinnerungen an unterbrochene Handlungen freigesetzt, die sehr schmerzhaft sein können.

Für Psychotherapeuten ist es oft ein langer Weg, an diese verborgenen und verdrängten Erinnerungen zu gelangen. Mit der Myoreflextherapie kann dem Patienten oft schneller geholfen werden. Wenn die Erinnerungen hochkommen, sollte trotzdem ein Psychotherapeut bei der Verarbeitung helfen.

Patientin auf Stuhl sitzend in psychotherapeutischer Behandlung

Myoreflextherapie als Ergänzung zur Psychotherapie

Früh übt sich

Die Myoreflextherapie kann in erstaunlich vielen Bereichen angewendet werden: Am häufigsten kuriert sie Bandscheibenvorfälle, chronische Kopfschmerzen, Rückenprobleme und Tinnitus – der oft bei körperlichem oder seelischem Stress entsteht.

Aber auch bei Arthrose, Herzrhythmusstörungen und Burn-Out-Syndrom kann die Therapie helfen. Denn wird der Anspannungspegel der Muskeln im Körper heruntergefahren, erhöht dies das seelische Wohlbefinden und reduziert Stress.

Um auf Dauer gesund zu bleiben, gibt es einige einfache und schnelle Übungen, die jeder fast überall durchführen kann. Diese Übungen nennen sich KiD-Übungen: Kraft in der Dehnung. Das heißt, dass die Muskeln gedehnt werden und in der Dehnung Druck aufgebaut wird, bis es zur Überspannung und dann zur Entspannung kommt.

Außerdem möchte Therapeut Markus Rachl motivieren, konstant weiter zu üben: "Häufig kommt der Effekt, dass die Leute aufhören, die Übungen zu machen, wenn es aufhört, weh zu tun. Meine Frage ist dann immer, warum aufhören, wenn es ihnen besser geht mit den Übungen? Das ist ein Sekundentraining ohne großen Aufwand."

Inzwischen geht Rachl sogar in Schulen und lehrt dort einfache Übungen. Er ist überzeugt, dass die Kinder später davon profitieren, egal welchen Beruf sie wählen: Denn wenn sie von klein auf lernen, ihre Muskelspannung zu verringern, können sie in allen Situationen mit Stress besser umgehen, so seine Hoffnung.

(Erstveröffentlichung: 2012. Letzte Aktualisierung: 18.01.2021)

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Quelle: WDR

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