Kleinfamilie – Großfamilie

Planet Wissen 06.05.2022 02:03 Min. UT Verfügbar bis 07.02.2027 SWR

Familie

Familie im Wandel

Im Lauf der Jahrhunderte hat sich das Familienbild immer wieder verändert. Dabei konnte und kann Familie viel mehr sein als Vater, Mutter, Kind: zum Beispiel Sippe, Stamm, Dynastie, Hausgemeinschaft oder Patchwork.

Von Hildegard Kriwet

Familie und Verwandtschaft

In der europäischen Kulturgeschichte spielt die Familie eine zentrale Rolle. Doch was zu welcher Zeit in welchem Kulturkreis unter dem Begriff Familie verstanden wurde, ist sehr unterschiedlich.

Nach heutigem Verständnis ist eine Familie zunächst nur die Zwei-Generationen-Kernfamilie, also Vater, Mutter, Kinder – aber auch diese Vorstellung wandelt sich. Mehr oder weniger gleichberechtigt daneben stehen andere Familienformen: alleinerziehende Elternteile, Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften.

Zu anderen Zeiten gehörten auch Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkeln und so weiter zur Kernfamilie. Unterschiedliche Verwandtschaftsgrade, mütterliche oder väterliche Herkunft spielten bei der Definition eine Rolle. Auch eine Wirtschaftseinheit wurde oftmals als Familie verstanden – etwa alle Personen, die auf einem Bauernhof arbeiteten und lebten.

Grundlegend für das Verständnis von Familie ist auch die Bedeutung der Ehe als Rechtsbündnis zwischen zwei Parteien. Es unterlag ebenso einem historischen Wandel wie die Rolle und Stellung der verschiedenen Familienmitglieder.

Familie beim Spaziergang auf einer Wiese

Wertewandel im Mittelalter

Bei den Germanen stand die Sippe im Vordergrund des Familienlebens, also eine soziale Gruppe miteinander verwandter Personen, die ein Oberhaupt hatte. Eine Eheschließung setzte die Herkunft aus einer in etwa gleichen wirtschaftlichen und sozialen Schicht voraus. Sie war hauptsächlich ein Wirtschaftsbündnis, geschlossen zum Erhalt von Macht und zur Vermehrung des Eigentums der Sippe.

Diese Grundvoraussetzung wurde erst durch die Verbreitung des Christentums langsam aufgeweicht. Eine Neuorientierung der moralisch-ethischen Bewertung veränderte den Stellenwert von Ehe und Sippe. Monogamie und Treue wurden von christlichen Eheleuten gefordert. Wirtschaftliche oder Standesgründe als ehestiftende Motive galten als nachrangig.

Eine Ehe nach christlichem Verständnis sollte nicht auf dem Kauf einer Frau beruhen, sondern auf dem Konsens der Partner. Die Kirche verlangte, dass beide Eheleute gleichen Glaubens waren und die Frau jungfräulich in die Ehe ging. Sie sprach ein Inzesttabu aus, um die Macht der großen Familiensippen zu brechen.

Die Vielehe (Polygamie) war in vorchristlichen Sippenstrukturen üblich, um Nachkommen und damit die Existenz der Sippe zu gewährleisten. Bei den Christen war sie dagegen verboten und existierte im späten Mittelalter nur im Verborgenen. Die vorher gängige rechtliche Gleichstellung ehelicher und nicht-ehelicher Kinder oder sogar von Lebensgefährten wurde mit der Verbreitung der christlichen Werte aufgehoben.

Farbiger Holzstich einer germanischen Familie

Germanische Eheleute stammten in der Regel aus der gleichen sozialen Schicht

Die Haushaltsfamilie

Die zunehmende Arbeitsteilung zwischen Handel und Handwerk in den Städten, später auch auf dem Land, brachte auf der Basis des christlichen Weltbildes einen neuen Familientyp hervor, den der "Haushaltsfamilie". Sie bildet eine Wirtschaftseinheit wie etwa einen Handwerksbetrieb, einen Tuchhandel oder einen Hof.

In seinem Haus hatte der Vater der Familie das Sagen – sein Wort hatte innerhalb seines Haushaltes Gesetzeskraft. Zur Haushaltsfamilie gehörten nicht nur die Blutsverwandten, sondern auch das Gesinde – die Knechte und Mägde, die für den Familienbetrieb arbeiteten. Der Haushaltsvorstand vertrat die Familie nach außen, er nahm öffentliche Ämter wahr und bestimmte.

Die Zuständigkeit der Frauen war nach innen gerichtet: Organisation des Haushaltes, Erziehung der Kinder, aber auch Mithilfe im Familienbetrieb. Die mittelalterlichen Hausfrauen gebaren viele Kinder. Aber nur wenige erreichten aufgrund der schlechten hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen das Erwachsenenalter. 20 Geburten im Verlauf einer Ehe waren keine Seltenheit. Neigungs- oder Liebesehen kamen nur zustande, wenn sie in die Hausgemeinschaft passten und zu ihrem Bestand beitrugen.

Die Häuser hatten eine besondere Rechtsstellung, die das Oberhaupt des Haushaltes ausübte – eine Hauseinheit wurde nicht mit einem Familiennamen, sondern mit einem Hausnamen bezeichnet, der auch in vielen Ortschaften das Haus von außen kennzeichnete. Diese Form der Haushaltsfamilie hat alle weiteren Familienbilder in den nächsten Jahrhunderten geprägt.

Wesentliche Merkmale wie die beherrschende Rolle des Vaters, die überschaubare Ordnung und Größe des Hauswesens, die Rolle und Aufgabe der Frau oder die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit lassen sich in den neuzeitlichen Formen der Bürger- und Arbeiterfamilie wiederfinden.

Familie im Nationalsozialismus

Der Familie wurde im nationalsozialistischen Staat eine ganz besondere ideologische Bedeutung zugeschrieben. Zunächst stand sie im Dienst der von den Nationalsozialisten propagierten Rassenlehre. Um das deutsche Volk zu stärken, sollten Frauen und Männer möglichst früh heiraten und viele Nachkommen zeugen.

Die Familiengründung hatte allerdings nicht die Verwirklichung privaten Glücks im Sinn, sondern wurde als nationale Pflicht angesehen. Erwünscht waren natürlich nur Ehen, in der sich die Rassen nicht mischten. Frauen sollten nicht berufstätig sein, sondern Mütter werden. Schon die Erziehung der Mädchen stand unter dieser Prämisse.

Als Idealbild galt die bäuerliche Großfamilie, in der das germanische Erbe der Sippe sichtbar war. Eingebettet in die "Blut und Boden"-Mystik sahen die nationalsozialistischen Ideologen eine natürliche Ordnung in der Hierarchie der Geschlechter, in der Autorität des Familienoberhaupts. Die bürgerliche Familie, die sich im 19. Jahrhundert als typische Stadtfamilie etabliert hatte, war den Nationalsozialisten zu privat und damit verdächtig.

Die Bauernfamilie mit der Einheit aus Arbeit und Familienleben war dagegen besser in die alles umfassende Staatsideologie einzupassen. Die Familie sollte im Sinne der Staatsideologie aber nur der "Aufzucht" der Kinder dienen, die politische und soziale Prägung selbst dem Staat und seinen Institutionen vorbehalten sein.

Um den gewünschten arischen Nachwuchs zu bekommen, wurde aber nicht am Familienbild festgehalten. In Einrichtungen, die "Lebensborn" hießen, sollte arischer Nachwuchs "gezüchtet" werden. Arische Frauen sollten Kinder zur Welt bringen, die dann von der SS in Obhut genommen und erzogen wurden – eine Aufhebung jeglicher Familienstruktur. Als "Begattungshelfer" kamen nur "wertvolle und rassisch einwandfreie Männer" infrage.

Familie Goebbels zu Besuch bei Hitler

Die Goebbels: eine nationalsozialistische Musterfamilie

Das Familienidyll der 1950er und die Folgen

Nach dem Krieg waren in Deutschland viele Familien zerstört: Hunderttausende Menschen waren bei den Bombenangriffen ums Leben gekommen, viele Söhne und Väter im Krieg gefallen, andere blieben jahrelang in Gefangenschaft. Auch Flucht und Vertreibung hatten Familien auseinandergerissen. Zu Beginn der Bundesrepublik arbeiteten viele Frauen – allerdings in erster Linie, weil männliche Arbeitskräfte fehlten.

Als diese wieder ausreichend zur Verfügung standen, wurden die Frauen auch durch familienpolitische Maßnahmen wieder aus dem Arbeitsleben gedrängt. Das Familienbild in den 1950er-Jahren beschwor eine Idylle, beschränkt auf die Zwei-Generationen-Kleinfamilie im eigenen Häuschen. Der Vater war Oberhaupt und Ernährer, die Mutter erzog die Kinder und führte den Haushalt.

Presse, Fernsehen und Werbung unterstützten diese Bild. Dieses Leitbild prägte auch die nachfolgenden Jahrzehnte. Alle Reformen, die einer veränderten Gesellschaft Rechnung tragen, müssen mühsam gegen dieses Familienbild durchgesetzt werden.

Familie beim Fernsehen im Wohnzimmer in den 1950er-Jahren

Die Traumfamilie der 1950er-Jahre

Familie ist heute mehr als zu jeder anderen Zeit eine emotionale Einheit, gegründet auf der freiwilligen Partnerschaft. Der Gedanke der Wirtschaftseinheit und die Abhängigkeit von einem Versorger sind untergeordnet. Auch der Nachwuchs spielt eine andere Rolle: Kinder sind für den Gefühlshaushalt wichtig, nicht um den materiellen Fortbestand einer Familie zu sichern.

Auch die Familienkonstellationen haben sich geändert: Die Eheschließung ist keine notwendige Grundlage. Es gibt viele Alleinerziehende, aus Trennungen neu entstandene Stief- oder Patchworkfamilien, Wohn- und Hausgemeinschaften – auch mit älteren Mitgliedern, die der Großelterngeneration angehören. Das ideologisch verklärte Leitbild der 1950er-Jahre hat sich überlebt.

Familienglück im Wandel

Planet Wissen 06.05.2022 03:38 Min. UT Verfügbar bis 07.02.2027 SWR

(Erstveröffentlichung: 2003. Letzte Aktualisierung: 17.03.2020)

Quelle: WDR

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