Porträtbild von Hertha Nathorff.

Novemberpogrome

Das Tagebuch der Herta Nathorff

Die Ärztin Hertha Nathorff (geborene Einstein) wurde 1895 im oberschwäbischen Laupheim geboren. Ihre Aufzeichnungen spiegeln das Leben der jüdischen Arztfamilie von 1933 bis 1945 in Berlin und New York wider – vom Beginn der Nazi-Diktatur bis zum schweren Neuanfang im Exil. Das Tagebuch dokumentiert die schrittweise Diskriminierung und Entrechtung der Juden in Deutschland. Im August 1938 wurde Hertha Nathorff wie allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. Ihr Mann Erich durfte noch als "Judenbehandler" weiterarbeiten. Der folgende Tagebuch-Auszug (Schreibweise im Original) schildert die Ereignisse der Reichspogromnacht.

Von Kathrin Schamoni

10. November 1938

"Es ist tiefe, tiefe Nacht – ich will versuchen, die Ereignisse des heutigen Tages niederzuschreiben mit zitternder Hand, Ereignisse, die sich mit Flammenschrift in mein Herz eingegraben haben. Ich will sie niederschreiben für mein Kind, damit es später einmal lesen soll, wie man uns zu Grunde gerichtet hat. Ich will alles so schreiben, wie ich es erlebt habe, in dieser Mitternachtsstunde, in der ich einsam und zitternd am Schreibtisch sitze, qualvoll stöhnend wie ein verwundetes Tier, ich will schreiben, um nicht laut hinauszuschreien in die Stille der Nacht.

Gestern ist in Paris ein Mord geschehen, ein polnischer Jude hat einen Sekretär der deutschen Botschaft erschossen. (…)

Heute früh erzählte mir dann mein Mädchen: "Heute Nacht haben sie wohl wieder allerhand angestellt. Im Pelzgeschäft nebenan sind die Schaufenster eingeschlagen und alles gestohlen." Ich höre nur mit halbem Ohr zu. Man ist ja schon an solche Dinge hier gewöhnt. Kurz darauf machte ich mich auf den Weg in die Klinik. Komisch, so viele Glassplitter auf der Straße! In dem schönen, eleganten Modegeschäft sind ja sämtliche Scheiben eingeschlagen, die Schaukästen leer. Auch im nächsten Geschäft und gegenüber bei Etam, in dem feinen Strumpfgeschäft, ist es das gleiche. Was haben sie bloß wieder gemacht?, denke ich. Da höre ich eine gutangezogene Dame im Vorbeigehen zu ihrem Mann sagen: "Recht geschieht es der verdammten Judenbande, Rache ist süß!"

Jetzt erst beginne ich zu erfassen, was geschehen ist und sehe mich richtig um. Scherben, Scherben, demolierte Geschäfte, soweit in der Kaiserallee überhaupt jüdische Geschäfte noch sind. Voller Ekel wende ich mich ab und gehe wieder nach Hause. Wohl höre ich einige unwillige Bemerkungen über diese Vorgänge aus den Reihen der Passanten; die meisten aber gehen scheu und still durch die Straßen.

Schwarzweiß-Bild: Ein Mann steht vor einem zerbrochenen Schaufenster.

Scherben bestimmen das Straßenbild

Als ich nach Hause komme, sagt mir mein Mädchen: "Herr Doktor ist schon fort. Er wurde eilig zu einem Herzanfall gerufen." Richtig, da liegen die Nummern der Reihe nach, wie mein Mann seine Besuche macht. So viele sind es heute. Ich bin so unruhig, bis er nach Hause kommt, und dann habe ich zu tun, den ganzen Vormittag wie verrückt. (…)

Ich habe mit dem Jungen allein Mittagbrot gegessen. Das Kind erzählt mir: "Denk mal Mutti, die Synagoge in der Prinzregentenstraße brennt. Ich habe es auf dem Heimweg gesehen, und auf den Straßen liegen lauter Scherben. Die Leute sagen, das alles haben die Nazis getan." Ich höre kaum zu, was das Kind mir erzählt. Ich lausche ja immer nur, ob mein Mann noch nicht kommt.

Inzwischen ist es 3 Uhr geworden. Schon kommen die ersten Patienten zur Nachmittagssprechstunde. Ich muß sie vertrösten, daß sie noch etwas warten. Es sind neue Patienten, die mich nicht kennen. Eine sagt zu mir: "Wissen Sie, daß unsere Gotteshäuser brennen? Was wird heute nur noch alles passieren?"

Schwarzweiß-Bild: Zu sehen ist der Innenraum einer Synagoge, alles ist zerstört.

Alles Schutt und Asche: die Synagoge Eberswalde

Ich habe keine Zeit, mich zu unterhalten. Es klingelt schon wieder. Meine Schwester ist gekommen. Wie blaß sie heute aussieht, denke ich. (…)

Meine Schwester sagt: "Hört denn auch heute bei Euch der verrückte Betrieb nicht auf?"

Aber ich kann jetzt nicht Rede und Antwort stehen. Da kommt mein Mann – müde, abgehetzt.

"Essen kann ich nichts, nur schnell eine Tasse Kaffee." Eilig begrüßt er meine Schwester.

"Kann ich Dich einen Augenblick allein sprechen?" fragt sie. Und in der Meinung, daß sie ihn konsultieren will, gehe ich eilig aus dem Zimmer.

Nach wenigen Augenblicken kommt mein Mann zu mir und sagt: "Du brauchst nicht zu erschrecken, aber sie haben Otto abgeholt."

"Abgeholt, wie, was?" frage ich.

"Ach", sagt mein Mann, "es scheint wieder eine Aktion im Gange zu sein. Von meinen Patienten sind auch verschiedene verhaftet. Daher die vielen Herzanfälle. Selbst von einer Hochzeitsgesellschaft haben sie die ganzen Männer abgeholt."

Ich bitte meinen Mann, sofort bei dem Bruder meines Schwagers anzurufen. Seine Frau ist am Telefon und sagt: "Er hält heute keine Sprechstunde. Er hat mit seinen Freunden einen Ausflug in den Grunewald gemacht. Bitte kommt bald herüber."

Schwarzweiß-Bild: Häftlinge marschieren in Fünfer-Reihen, daneben ein Aufseher.

Verhaftete jüdische Männer im KZ Dachau

Und mein Mann hält seine Sprechstunde! Dann begleitet er meine Schwester zu ihrer Schwägerin. Ihr Junge öffnet die Tür und sagt: "Den Pappi haben sie auch abgeholt." Das telefonieren sie mir, die zu Haus geblieben ist, durch. Ich bitte meinen Mann, nicht nach Hause zu kommen. Ich bringe ihm alles, was er für seine Abendbesuche nötig hat, auf die Straße, und ich treffe mich mit ihm, begleite ihn bei seinen Besuchen, verzweifelt und traurigen Herzens. Was tun, was tun?

Ich bitte meinen Mann, nicht nach Hause zu kommen. "Schlaf bei Freunden – erst kürzlich hat mir jemand gesagt, bei uns ist immer Platz für Sie." Aber mein Mann? Er denkt nur an seine Patienten. An die Männer und Frauen, die heute Herzanfälle bekommen haben, weil man ihre Angehörigen kurzerhand abgeholt hat. Und niemand weiß, wohin.

Es ist später Abend geworden. In der Zeitung steht, die Aktion ist abgeschlossen. Und mein Mann sagt, daß er auf alle Fälle nach Hause kommen will. "Weißt du noch immer nicht, wie ihre Zeitungen lügen?" frage ich ihn. Aber ich kann ihn nicht hindern, auch weiter seine Pflicht zu tun. Es ist 9 Uhr abends. Ich wenigstens gehe nach Hause, ich muß nach meinem Jungen sehen. Meine alte Köchin ist schon zu Bett gegangen. Ich bin ganz allein in der Wohnung, in der unheimlichen Stille. (…)

Schwarzweiß-Bild: Ein Schild 'Achtung Jude! - Besuch verboten!' befindet sich an der Tür einer jüdischen Arztpraxis.

Jüdische Ärzte durften nur noch als "Judenbehandler" arbeiten

Einhalb 10 abends. Es klingelt zweimal kurz und scharf hintereinander. Ich gehe an die Tür:

"Wer ist da?"

"Aufmachen! Kriminalpolizei!" Ich öffne zitternd, und ich weiß, was sie wollen. "Wo ist der Herr Doktor?"

"Nicht zu Hause", sage ich.

"Was? Die Portierfrau hat ihn doch nach Hause kommen sehen."

"Er war zu Hause, aber ist wieder weggerufen worden."

Sie gehen auf die erste Tür zu. Geschlossen. Die zweite Tür. Geschlossen.

"Hier sind unsere Praxisräume", erkläre ich. "Ich schließe abends immer zu, wenn ich allein zu Hause bin, seit wir einmal bestohlen worden sind."

Sie gehen an die nächste Tür. "Bitte nicht rütteln", sage ich. "Hier schläft mein Kind."

"Den jüdischen Dreh kennen wir." Und – mir den Revolver unter die Nase haltend – "noch ein Wort, und die Kugel sitzt Ihnen im Hirn. Wo haben Sie Ihren Mann versteckt?"

Meine Knie zittern. Nur ruhig bleiben, ruhig bleiben, sage ich zu mir selber. "Ich lüge nicht. Mein Mann ist nicht zu Hause. Aber bitte erst mein Kind, dann mich. Und treffen Sie gut."

Und ich öffne die Tür, die ins Zimmer des schlafenden Kindes führt.

Schon schicken die beiden Kerle sich an zu gehen. Endlich scheinen sie mir ja glauben zu schenken. Doch in diesem Augenblick höre ich, wie die Türe zu unserer Wohnung aufgeschlossen wird. Mein Mann kommt – er kommt, der Unglückselige, in dem Augenblick, da ich ihn gerettet wähne. Und wie er geht und steht, führen sie ihn ab.

"Danken Sie Ihrem Herrgott, daß Ihrer Frau nicht die Kugel im Hirn sitzt." (…)

Ich renne ihnen nach auf die Straße. "Wohin mit meinem Mann, was ist mit meinem Mann?"

Brutal stoßen sie mich zurück. (…) Und ich sehe, wie sie in ein Auto steigen und davonfahren mit meinem Mann in die dunkle Nacht."

Schwarzweiß-Bild: Eine Familie steht mit gepackten Koffern in einem Wohnzimmer.

Die Flucht als letzte Rettung

Was danach geschah

Nach fünf Wochen kehrte Erich Nathorff geschunden aus dem Konzentrationslager in Dachau zurück. Die Diskriminierungen und Schikanen gingen weiter. Verzweifelt versuchten die Nathorffs, Papiere für die Ausreise zu bekommen. Die Behördengänge waren zermürbend. Am 2. März 1939 wurde der Sohn in Sicherheit gebracht – mit einem Kindertransport ging es nach England.

Ende April 1939 verließen Hertha Nathorff und ihr Mann das Land: "Es ist vorbei. Um Mitternacht sind wir fortgefahren. (...) Der Zug rattert durch die Nacht. Schlafen kann ich nicht. Ich bin nicht mehr gewöhnt, ruhig zu schlafen. Überall lauert Angst und Gefahr, bis ich endlich dieses Land, das meine Heimat war, verlassen habe…", schrieb sie im Zug nach Bremerhaven.

Hertha Nathorff starb 1993 in New York. Ihr Mann starb bereits 1954, ihr Sohn 1988. Deutschland, ihre Heimat, hat Hertha Nathorff nie wiedergesehen.

(Quelle: Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, herausgegeben und eingeleitet im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Wolfgang Benz, Oldenbourg Verlag, München 1987)

Quelle: WDR | Stand: 22.11.2019, 16:00 Uhr

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