Asien

Vietnam

Vietnam ist ein beliebtes Reiseziel. Der Tourismus ist einer der wichtigsten Motoren für den wirtschaftlichen Aufschwung.

Von Kirsten Praller

Das Land der Gegensätze

In den quirligen Millionenstädten Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt ist der Lebensstandard seit den 1980er-Jahren enorm gestiegen und der Siegeszug des privaten Unternehmertums überall sichtbar. In den ländlichen Regionen dagegen, wo 75 Prozent der Vietnamesen leben, setzen sich die Veränderungen sehr viel langsamer durch. Hier dominieren noch immer altertümliche Anbaumethoden und eine traditionelle Lebensweise.

Die Haupterwerbsquellen sind die Landwirtschaft und der Fischfang. Das Delta des Roten Flusses im Norden und das Mekong-Delta im Süden sind die wichtigsten Reisanbaugebiete des Landes und sie gehören zu den am dichtesten besiedelten Regionen Vietnams.

Der Reisanbau

Die weitläufigen Gebirgsregionen und Hochebenen machen drei Viertel des vietnamesischen Territoriums aus. Ansonsten bestimmen die je nach Jahreszeit unterschiedlichen Grüntöne der Reisfelder das Landschaftsbild. Zwar beschert das fruchtbare Schwemmland der Flussdeltas den Bauern bis zu drei Reisernten im Jahr, aber die Ernte ist harte Handarbeit. Nur selten kommen Maschinen zum Einsatz.

Die Schösslinge werden ein bis zwei Monate lang in Saatfeldern gezogen, ehe sie mühevoll einzeln in die bewässerten und gepflügten Reisfelder umgesetzt werden. Während der folgenden Wachstumsphasen muss der Wasserspiegel immer gleich hoch sein, damit die Pflanzen weder vertrocknen noch verfaulen. Kurz vor der Ernte wird das Feld trockengelegt, damit das Korn endgültig reifen kann.

Ein Mann in Vietnam auf einem Reisfeld | Bildquelle: laif/WDR

Die gesamte Reiskultur erfordert eine genaue Arbeitsteilung, denn die effektive Kontrolle der Bewässerung kann keine Familie alleine leisten. Hier müssen Dörfer, Distrikte und ganze Provinzen koordiniert zusammenarbeiten. Die wiederkehrenden Zyklen von Aussaat, Umsetzung, Bewässerung und Ernte bestimmen von jeher den Lebensrhythmus der bäuerlichen Bevölkerung.

Die Bildung

Das Bildungsniveau ist in Vietnam traditionell hoch. Wenn es möglich ist, geben viele Familien für die Ausbildung ihrer Kinder eine Menge Geld aus.

Zwischen Stadt und Land bestehen jedoch große Unterschiede im Bildungs- und Qualifizierungsgrad. Zwar herrscht allgemeine Schulpflicht – doch die Familien auf dem Land können ihre Kinder oft trotzdem nicht zur Schule schicken, da sie die Kosten für Schulkleidung und Lehrmittel nicht aufbringen können.

Häufig werden die Kinder auch als Arbeitskräfte gebraucht. Sie arbeiten auf den Reisfeldern und beim Bootsbau mit oder transportieren mit Korbbooten Passagiere auf Flüssen und durch Buchten.

Die Stadt als Zentrum des Wandels

Während das Leben auf dem Land größtenteils nach alten Traditionen verläuft, haben sich die lebhaften Millionenstädte Hanoi und Saigon in den vergangenen Jahren enormen gewandelt. Aufgrund seiner nicht-kommunistischen Vergangenheit tut sich der Süden mit den Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft leichter als der bürokratisch geprägte Norden. Ein Sprichwort sagt: "In Hanoi werden die Gesetze gemacht, in Saigon die Geschäfte."

Saigon wurde zwar 1976 zu Ehren des Revolutionärs Ho Chi Minh in "Ho-Chi-Minh-Stadt" umbenannt. Doch im Süden will sich der Name bis heute nicht so recht durchsetzen. In der Stadt sind an jeder Straßenecke Beispiele für erfindungsreiche und geschäftstüchtige Privatinitiativen zu besichtigen: Ambulante Suppenverkäufer, Fahrradflicker, Luftpumpenverleiher und Handwerker, die alte Getränkedosen kunstvoll zu Blechspielzeug verarbeiten. Daneben gibt es Wahrsager, "Ohrenputzer", die ihren Kunden mit überlangen Pinzetten zu Leibe rücken, oder "Tankstellenbesitzer", deren Betriebskapital aus einem simplen Kanister Benzin besteht.

Viele Menschen haben mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen. Die Löhne von Angestellten und Staatsbediensteten sind niedrig. Etwas abschätzig wird Saigon als die frivole Nichte der ehrwürdigen Tante Hanoi bezeichnet. Das Leben in Saigon scheint von größerer Leichtigkeit zu sein als in der strengeren Hauptstadt Hanoi.

Überall in den Städten wird gebaut | Bildquelle: afp

Der schwere Weg in die Moderne

Während des Kampfes um die Unabhängigkeit bestand die große Stärke der Kommunisten darin, dass sie in der praktischen Politik moderne Ideologie und traditionelles Denken zu verknüpfen wussten. Heute muss das Land nicht nur den Übergang in die Marktwirtschaft mit dem Fortbestehen der sozialistischen Staatsordnung verbinden, sondern auch den Spagat zwischen jahrhundertealten Denk- und Handlungsweisen und den neuen Werten der marktwirtschaftlichen Moderne aushalten. Dieser anspruchsvolle Prozess ist voll im Gang.

Mit der Öffnung des Landes haben die ausländischen Einflüsse stark zugenommen. Bei den jungen Menschen stehen Sprache und Kultur des ehemaligen Feindes USA hoch im Kurs. Das führt zu Konflikten zwischen den Generationen, denn jahrhundertelang hat sich die Idee der nationalen Identität in der schwierigen Geschichte des Landes als verbindende Kraft bewährt.

Besonders auffällig ist der Übergang vom "wir" zum "ich", von dem in der vietnamesischen Gesellschaft tief verankerten Gemeinschaftsdenken zu einer stärkeren Betonung der Rolle des Individuums. Der Begriff Freiheit, der früher gleichbedeutend war mit nationaler Unabhängigkeit, wird heute vor allem von der jungen Generation als die Freiheit des Einzelnen verstanden, der sich nicht mehr automatisch selbstlos der Gemeinschaft unterordnet.

Auch die Gesellschaft befindet sich im Wandel | Bildquelle: wdr