Hinduismus
Hindutva – der politische Hinduismus
Wie bei anderen Religionen auch, gibt es bei den indischen Religionen eine politische Dimension: die Ideologie des Hindutva. Auch in der indischen Gesellschaft wächst der religiöse Nationalismus, wie ihn etwa die Regierungspartei "Bharatiya Janata Party" (BJP) verbreitet.
Von Antje Stiebitz
Hindu-Nationalismus als Antwort auf Fremdherrschaft
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde Indien von den Briten kontrolliert. Die puritanischen, sehr konservativen Briten verurteilten den indischen Glauben an viele Götter (Polytheismus). Außerdem kritisierten sie die gesellschaftliche Einteilung in Kasten, die Kinderheirat und die rituelle Witwenverbrennung.
Ihre Kritik fiel bei einigen Indern auf fruchtbaren Boden. Sie wollten den Hinduismus verändern und es entstanden zahlreiche neo-hinduistische Reformbewegungen – darunter die Hindutva-Bewegung.
Die radikaleren Kräfte innerhalb dieser Reformbewegungen wandten sich gegen die britische Kolonialherrschaft. Gleichzeitig litten sie auch noch am zuvor erlebten Regiment der Großmogule, die auf dem indischen Subkontinent vor den Briten geherrscht hatten. Sie hofften, dass die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln dabei helfen könne, die Jahrhunderte alte Fremdherrschaft abzuschütteln.
Die Wut auf die britischen Besatzer war eine wichtige Triebfeder
Der Philosoph und Gelehrte Dayananda Saraswati etwa versuchte den Ruhm der Hindu-Herrschaft wiederherzustellen, in dem er sich auf die vedischen Lehren zurückbesann. Zugunsten der Veden vernachlässigte er andere Schriften und begann dadurch die religiösen Traditionen des Subkontinents zu verengen. Der Politiker Vinayak Damodar Sarvarkar entwickelte in seinen Schriften dann die hindunationalistische Hindutva-Ideologie.
Mit der Gründung des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) entstand 1925 eine radikale hinduistische Organisation. Ihr Vordenker Madhavrao Sadashivrao Golwalkar sympathisierte mit den faschistischen Bewegungen der 1930er-Jahre in Europa.
Der RSS ist eine aus der Bevölkerung entstandene Organisation, die die Prinzipien der Hindutva-Ideologie praktisch umsetzt. Zudem ist der RSS eine Kaderschmiede für Politiker, die sich den Idealen des Hindu-Nationalismus verschrieben haben.
Madhav Sadashiv Golwalkar prägte die nationalistische Organisation RSS
Religiöse Identität als Merkmal der Zugehörigkeit
"Hindutva" bedeutet "Hindutum", wird aber meist übersetzt mit "Hindu-Nationalismus", "politisierter Hinduismus" oder "Hindu-Fundamentalismus". Was für den Nationalisten Vinayak Damodar Sarvarkar wirklich zählte, war die Hindunation (Hindurashtra).
Diese Nation stützt sich auf drei Säulen: das gemeinsame Land, die gemeinsame Abstammung und die gemeinsame Kultur. Savarkar ist der Ansicht, dass nur der ein Hindu sein kann, der Indien als Vaterland und als heiliges Land betrachtet.
Damit bezieht er alle in Südasien entstandenen Religionen in die Hindutva-Bewegung mit ein: Sikhs, Buddhisten, Jaina und die Stammesbevölkerung. Zugleich schließt er alle Inder aus, die ihre heiligen Stätten nicht in Südasien haben: Muslime, Parsen (die ursprünglich aus Persien stammen), Juden und Christen.
Entscheidend ist allerdings, dass Sarvarkar eine Wertung vornimmt. Hindus, so schreibt er, sind wichtiger als alle Nicht-Hindu-Gemeinschaften in Indien. Diese propagierte Überlegenheit der Hindus, der Führerkult, gewaltsame Auseinandersetzungen mit Minderheiten – die Parallelen des Hindu-Nationalismus zum europäischen Faschismus sind unübersehbar und kein Zufall.
Führerkult und martialische Inszenierung finden sich im Dritten Reich und im Hindutva
Triebfeder Hindutum – die BJP
Die heutige Regierungspartei BJP wurde 1980 aus ihrer Vorgängerpartei Janata Party gegründet. Ihr Ursprung liegt allerdings in dem 1925 gegründeten radikal-hinduistischem Freiwilligencorps RSS. Die BJP betreibt eine Politik, die man kurz mit "Indien den Hindus" umschreiben kann.
Ihren ersten Wahlerfolg erzielte die BJP im Jahr 1989. Die nächsten zwei Jahrzehnte waren für die BJP von politischen Auf und Ab gekennzeichnet – bis ihr im Jahr 2014 ein überwältigender Wahlsieg gelang und sie unter Premierminister Narendra Modi die Regierungsmacht übernahm. 2019 bestätigten die Wähler die BJP und Narendra Modi wieder mit gewaltiger Mehrheit.
Religiöse Verklärung und brutale Gewalt
Die Hindutva-Bewegung setzt auf einen Hinduismus, der die eigene Überlegenheit demonstriert: Andere Glaubensrichtungen dürfen nach ihrer Vorstellung zwar in Indien leben, aber zu den Bedingungen der hindu-nationalistischen Bewegung.
Das zeigt sich etwa dadurch, dass Premierminister Narendra Modi seit seiner Wiederwahl 2019 verfassungsrechtliche Schritte unternimmt, die sich gegen die Minderheit der Muslime wenden und die säkulare Verfassung in Frage stellen.
Zwei Beispiele: Die neuen Staatsbürgergesetze gewähren illegalen Migranten aus den Nachbarländern Pakistan, Bangladesch und Afghanistan die indische Staatsbürgerschaft. Das Gesetz gilt für Christen, Hindus, Sikhs, Buddhisten, Jaina und Parsen, die bis Ende 2014 nach Indien eingereist sind, um der religiösen Verfolgung in ihren überwiegend muslimischen Ländern zu entgehen. Illegal eingewanderte Muslime schließt die Verordnung ausdrücklich aus.
Auch der Bau des Ram-Tempels wendet sich explizit gegen Muslime. Der Ram-Tempel in Ayodhya ist ein Lieblingsprojekt der BJP, das sie über Jahrzehnte vorangetrieben hat. Ayodhya gilt als Geburtsort des Gottes Ram. Er soll genau an dem Ort geboren sein, an dem die Babri-Moschee stand – bis 1992, als sie von radikalen Hindus demoliert wurde. Nach langem gerichtlichen Streit legte Narendra Modi im August 2020 dort den Grundstein für den Ram-Tempel.
Anhänger der nationalistischen BJP-Partei feiern die Grundsteinlegung des Ram-Tempels
Religiöse Minderheiten wie Muslime oder Christen stehen im Fokus von militanten Hindu-Gruppen. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu religiös motivierten Hassverbrechen gegen diese Minderheiten.
Die Hindu-Nationalisten verengen die Geschichte Indiens zuliebe eines traditionell-religiösen Weltbildes. Dabei verwerfen sie rationale oder wissenschaftliche Überlegungen oft zugunsten von fundamental-religiöser Interpretation: etwa als sie während der Corona-Pandemie Kuh-Urin als Heilmittel gegen das Virus anpriesen.
Oder wenn sie den elefantenköpfigen Gott Ganesha als antikes Beispiel einer Transplantationsoperation darstellen. Der Mythos erzählt, dass Gott Shiva seinem Sohn Ganesha versehentlich den Kopf abschlug und dem Jungen dann ersatzweise den Kopf eines Elefanten aufsetzte.
Eine Kopftransplantation für Ganesh?
UNSERE QUELLEN
- Deutschlandfunk: Religion und Nation – Die Wurzeln der indischen Hindutva-Ideologie
- Eigenes Gespräch mit Harsh Mander, indischer Autor, Wissenschaftler und Aktivist (27. Januar 2021)
- Eigenes Gespräch mit Mohammad Ali, indischer Journalist und Reporter (11. Januar 2021)
- Eigenes Gespräch mit Pierre Gottschlich, Lehrstuhlvertreter für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Rostock (16. Dezember 2014)
- Eigenes Gespräch mit Dr. Tobias Delfs, Projektmitarbeiter am Seminar für Südasienstudien, Humboldt-Universität Berlin (19. Dezember 2014)
(Erstveröffentlichung 2021. Letzte Aktualisierung 02.06.2021)
Quelle: WDR