Industrialisierung in Deutschland

Urbanisierung in Deutschland

Ganze Familien in einem einzigen Raum. Kinder, die auf Lumpen schlafen. Schichtarbeiter, die sich zum Schlafen ein Bett mieten müssen. Das alles war Alltag im 19. Jahrhundert, als viele Menschen ihre Dörfer verließen und die Städte mit dem Menschenansturm überfordert waren.

Von Lukas Bergmann

Zu fünft in einem Raum

Es ist ein heißer Augustnachmittag im Berlin der 1890er-Jahre. Der junge Journalist Albert Südekum begleitet einen befreundeten Arzt zu einem Hausbesuch in den Wedding.

Südekums Grund für den Besuch: Er will auf das Wohnungselend in den Berliner Armenvierteln aufmerksam machen.

Die beiden Freunde sind unterwegs zu einer fünfköpfigen Arbeiterfamilie. Diese wohnt im dritten Stock einer typischen Mietskaserne. Die Mutter ist beim Zeitungsaustragen auf einer Treppe gestürzt, hat sich den Fuß verstaucht und die Sehnen gezerrt.

Oft können die Familien nur die Miete für einen Raum aufbringen | Bildquelle: akg-images

Deswegen kann sie nicht arbeiten. Um den Haushalt kümmert sich derweil die älteste, erst 14 Jahre alte Tochter, die zusätzlich noch als Dienstbotin arbeitet.

Der Mann arbeitet als Flaschenspüler bei einer Brauerei – das ist zwar schlecht bezahlt, aber immerhin wird ihm über den Winter nicht gekündigt.

Die Wohnungen des Gebäudes, das Südekum und der Arzt betreten, bestehen fast alle aus einer Küche und einer Stube. Die Familie kann allerdings nur die Miete für die spärlich eingerichtete Küche bezahlen und hat deswegen die Stube untervermietet.

Auf engstem Raum lebt, schläft und kocht die Familie in einem einzigen Raum, der Küche.

Bauern dürfen die Höfe ihrer Feudalherren verlassen

Wie die von Südekum besuchte Familie wohnt, ist typisch für die Arbeiterklasse der Großstädte Ende des 19. Jahrhunderts. Denn im Laufe des 19. Jahrhunderts wandert die Landbevölkerung massenweise in die Städte ab, die dem Ansturm nicht gewachsen sind. Heute beschreibt man diese Phase als Urbanisierung.

Warum geben gerade zu dieser Zeit so viele Menschen das gewohnte Landleben auf und ziehen in die Stadt? Soziologen und Historiker unterscheiden zwischen so genannten "Pushfaktoren" und "Pullfaktoren" (von den englischen Wörten "push" = schieben und "pull" = ziehen). Pushfaktoren treiben die Menschen vom Land weg, Pullfaktoren machen die Städte attraktiv und ziehen die Menschen an.

Die Ursachen für die Pushfaktoren liegen bereits Jahrzehnte vor der Industrialisierung: Ausschlaggebend sind die Agrarreformen in Preußen und anderen deutschen Staaten im frühen 19. Jahrhundert, die es den bis dahin von ihren Feudalherren abhängigen Bauern überhaupt erst ermöglichten, von den Höfen wegzuziehen.

Viele Menschen zieht es vom Land in die Stadt | Bildquelle: akg

Gleichzeitig stellten die Reformen viele Bauern vor finanzielle Schwierigkeiten: Um eigenes Land zu erwerben, müssen die Bauern die Gutsherren entschädigen – entweder mit Geld oder Land. Viele können die Mittel für den Ausgleich nicht aufbringen.

Nun kommt der Pullfaktor ins Spiel: Die Stadt lässt in dieser Zeit die Menschen auf ein besseres Leben hoffen und zieht damit gerade die Bauern an, die auf dem Land von Verarmung bedroht sind.

"Es waren drei Faktoren, die zusammenkamen und die die Menschen in die Stadt getrieben haben: die drohende Verelendung auf dem Land, die Freiheit wegzuwandern und die Hoffnung, in der Stadt ein besseres Leben aufzubauen", fasst Christoph Bernhardt vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung zusammen.

"Hinzu kam, dass die Bevölkerungszahl auf dem Land dramatisch anwuchs, was teilweise zu Hungersnöten führte."

Die Menschen finden in der Stadt Arbeit

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt hinzu, dass die Industrie immer mehr Menschen Arbeit bietet. Dadurch steigt die Bevölkerung in der Stadt explosionsartig an.

"In dem Moment, wo die Hochindustrialisierung einsetzt, werden die Leute nochmal stärker angezogen und dann gibt es eine enorme Steigerung der Zuwanderung", so Christoph Bernhardt.

Die Krupp-Gussstahlfabrik in Essen: Auch sie zog viele Arbeiter an | Bildquelle: akg

Die Zahlen der Tabelle zeigen, wie sehr die heute zehn größten Städten Deutschlands durch die Industrialisierung angewachsen sind.

Besonders markant ist die Entwicklung des Ruhrgebiets, in dem sich Kleinstädte in wenigen Jahren zu einer riesigen Stadtregion entwickelten, einer sogenannten "Konurbation".

18751910
Berlin966.8592.071.257
Hamburg264.675931.035
München193.024596.467
Köln135.371516.527
Leipzig127.387589.850
Stuttgart107.273286.218
Frankfurt a. M.103.136414.576
Düsseldorf80.695358.728
Dortmund57.742214.226
Essen54.790294.653

Die Kinder schlafen auf dem Boden

Zurück in die bedrückende Enge der Küche, wo Südekum die Mutter der Arbeiterfamilie befragt, während der befreundete Arzt sie untersucht.

Südekum erfährt, dass die Familie ursprünglich in einem Dorf bei Belgard in Pommern lebte und vor etwa zehn Jahren nach Berlin zog. Auslöser dafür war ein Streit mit dem Gutsbesitzer.

15-mal ist die Familie bislang umgezogen, weil der Vater immer wieder die Arbeit wechseln musste. Das verbesserte ihre Wohnsituation allerdings nicht: Meistens konnte sie, wie auch jetzt, nur ein Zimmer anmieten.

Hier schlafen die Eltern im einzigen Bett, die drei Kinder liegen auf Kleidungsstücken auf dem Küchenboden. Erst wenn Mutter und Vater um 5 Uhr morgens ihren langen Arbeitstag antreten, können sich die Kinder in das Bett legen.

Tagsüber schläft oft noch ein Schichtarbeiter im Bett, ein sogenannter Schlafgänger, der sich nur die Miete für einen Schlafplatz leisten kann.

In den Elendsvierteln breiten sich Krankheiten aus

Die Städte sind auf die vielen Menschen nicht vorbereitet – "weder auf den extremen Wohnungsbedarf noch in Fragen der Infrastruktur, insbesondere der Gesundheitsinfrastruktur wie Wasserver- und -entsorgung", sagt Christoph Bernhardt.

In den Städten wachsen die Elendsviertel. Vor allem in der vorindustriellen Phase, in der die Industrie noch keine Arbeitsplätze bereitstellt, verarmen die Menschen – von Historikern wird diese Phase Pauperismuskrise genannt.

Elendsquartiere vor den Toren Berlins | Bildquelle: akg

Die mangelnde Hygiene bildet den Nährboden für Krankheiten wie die Cholera, die sich in den dicht besiedelten Städten besonders schnell verbreiten kann.

Auch die Mutter, die der Journalist Südekum besucht, ist am Ende ihrer Kräfte: Ihr Mann sei in den letzten Tagen kaum noch nach Hause gekommen, weil er es in der heißen Wohnung nachts nicht aushalte und lieber unter freiem Himmel schlafe.

In dem großen Mietshaus sei es auch für sie unerträglich. Der Lärm der Nachbarn, die Hitze, aber auch zugleich das Gefühl der vollständigen Vereinsamung hätten in ihr sogar den Gedanken ausgelöst, sich aus dem Fenster zu stürzen.

Die Städte stellen sich auf mehr Menschen ein

Das Elend der Familie ist nur ein Ausschnitt des städtischen Lebens. Historiker gehen davon aus, dass sich die Situation bereits seit den 1880er-Jahren langsam verbesserte. Nach und nach fanden die Städte Lösungen für die Probleme.

Sie bauten etwa Versorgungssysteme für Wasser, Gas und später Elektrizität und auch Krankenhäuser, Parks und Straßenbahnen.

Neben den Elendsvierteln entstehen in Vierteln wie im Berliner Charlottenburg zur gleichen Zeit auch Quartiere für die Besserverdienenden. Die sozialen Schichten trennen sich zunehmend räumlich voneinander.

Ob die Familie ihre missliche Lage verbessern konnte, erfahren wir von Alfred Südekum nicht. Er selbst macht Karriere in der SPD, zieht von 1900 an für 18 Jahre in den Reichstag ein und wird preußischer Finanzminister.

Straßenbahnen an der Berliner Haltestelle Hallesches Tor | Bildquelle: akg

(Erstveröffentlichung: 2017. Letzte Aktualisierung: 18.03.2020)