Kapitalismus

Neoliberalismus – "von staatlichen Fesseln befreiter" Kapitalismus

Noch nie war die Kluft zwischen Arm und Reich auf der Welt so groß wie heute, das zeigen Studien. Einem einzigen Prozent der Menschheit gehören 45 Prozent des gesamten globalen Vermögens. Viele Menschen machen den Neoliberalismus dafür verantwortlich.

Von Carsten Günther

Jeder ist seines Glückes Schmied – das Modell USA

"Vom Tellerwäscher zum Millionär", dieses Motto steht für das Wirtschaftsmodell der Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Gemeint ist damit: Jeder kann sich von ganz unten bis ganz nach oben hocharbeiten, wenn er nur fleißig genug ist.

Auf der anderen Seite heißt dies aber auch: Wer den Aufstieg nicht geschafft hat, ist eben selber schuld. Ein staatlich organisiertes soziales Netz für Menschen, die krank oder arbeitslos sind, halten viele Amerikaner für unnötig.

Auch einen Kündigungsschutz gibt es in den USA kaum. Die Unternehmen können je nach Bedarf schnell Arbeitskräfte einstellen und wieder entlassen – "hire and fire" (zu Deutsch etwa "anheuern und feuern") nennt man diese Methode auch.

Besonders während der Präsidentschaft von Ronald Reagan zwischen 1981 und 1989 wurde die US-Wirtschaft liberalisiert, also von staatlichen Eingriffen "befreit", wie man es damals nannte. Reagan senkte Steuern für Unternehmen, damit sie mehr produzierten und mehr Arbeiter einstellten.

Dahinter steht die "trickle-down-Theorie" ("Durchsicker-Theorie"). Sie besagt, dass der Wohlstand von der reichen Oberschicht im Laufe der Zeit automatisch in die unteren Gesellschaftsschichten durchsickert.

Dieser Kapitalismus US-amerikanischer Prägung unterscheidet sich erheblich vom Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das die bundesdeutsche Geschichte geprägt hat.

Freiheit bedeutet in den USA vor allem wirtschaftliche Freiheit | Bildquelle: wdr

Britische Staatsbetriebe werden privatisiert

In Großbritannien setzte sich in den 1980er-Jahren eine ähnliche Form des Kapitalismus' durch. Premierministerin Margaret Thatcher, die von 1979 bis 1990 im Amt war, reagierte damit auf monatelange Streiks, die immer wieder das gesamte Land lahmzulegen drohten.

Thatcher beschränkte die Macht der Gewerkschaften und privatisierte viele Staatsunternehmen – etwa das Telefonwesen, Energieunternehmen und die Trinkwasserversorgung.

Ein bekanntes Beispiel für eine misslungene Privatisierung öffentlichen Eigentums ist die britische Eisenbahn. Sie wurde 1994 durch Thatchers Nachfolger John Major eingeleitet. Damals wurden die britischen Staatsbahnen in mehr als 100 Einzelunternehmen aufgeteilt.

Heute sind Schienen, Züge und Bahnhöfe in schlechtem Zustand, viele Züge sind unpünktlich oder die Verbindungen fallen ganz aus. Kritiker behaupten, den Unternehmen gehe es nur um Profit und sie würden Sicherheit und Fahrkomfort vernachlässigen. Seit 2018 hat die britische Regierung mehrere Bahnlinien wieder rück-verstaatlicht.

Ronald Reagan und Margaret Thatcher stehen für Privatisierung und Deregulierung | Bildquelle: picture alliance / dpa

Starker oder schlanker Staat?

Die Theorie, die meist mit solchen Maßnahmen in Verbindung gebracht wird, heißt "Neoliberalismus".

Ursprünglich war damit ein Modell der Sozialen Marktwirtschaft gemeint, etwa in den Schriften des Ökonomen Walter Eucken. Er forderte eine Wirtschaftsform, die den freien Wettbewerb garantiert, gleichzeitig aber staatliche soziale Sicherungen vorsieht.

Seit den 1980er-Jahren hat der Begriff Neoliberalismus einen grundlegenden Bedeutungswandel erlebt. Heute steht er für eine Wirtschaftspolitik, die von Deregulierung und Privatisierung staatlicher Aufgaben geprägt ist. Der Staat soll sich weitgehend aus der Wirtschaft heraushalten, damit diese sich frei entwickeln kann. Anhänger der neoliberalen Idee sind der Meinung, diese rege die Menschen dazu an, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Doch es gibt auch Kritik. Nach Ansicht des US-Linguisten und Systemkritikers Noam Chomsky hat der Neoliberalismus eher negative Folgen: "Massive Zunahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit, gravierende Rückschläge für die ärmsten Nationen und Völker der Welt, die katastrophale Verschlechterung der globalen Umweltbedingungen, eine instabile Weltwirtschaft – aber munter sprudelnde Quellen wachsenden Reichtums für die Wohlhabenden."

Der Neoliberalismus verspricht freies Unternehmertum ohne staatliche Eingriffe | Bildquelle: WDR / ddp / CHIN LEONG TEOH

Die "Agenda 2010" – mehr Eigenverantwortung

Auch in Deutschland wurden die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in den vergangenen Jahren geändert. 2003 stellte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Deutschen Bundestag sein Reformprogramm "Agenda 2010" vor: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern müssen."

Gleichzeitig weitete die Regierung Schröder den Niedriglohnsektor massiv aus, der inzwischen einer der größten in Europa ist. Im Jahr 2020 arbeiteten 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland zu niedrigen Löhnen, das heißt für weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde.

Die Befürworter der Reformen verweisen darauf, dass durch die geringeren Lohnkosten viele Jobs geschaffen wurden.

Im Jahr 2017 kam das Bundeswirtschaftsministerium zu dem Ergebnis, dass in den unteren Einkommensschichten 40 Prozent der Deutschen weniger verdienten als 20 Jahre zuvor. Gleichzeitig seien Gutverdiener und Kapitalbesitzer im gleichen Zeitraum deutlich reicher geworden.

Kritiker des neoliberalen Modells beklagen daher, die Agenda 2010 habe den deutschen Sozialstaat, der jahrzehntelang vom sogenannten "Rheinischen Kapitalismus" geprägt war, ausgehöhlt und viel Geld von unten nach oben umverteilt.

Viele Deutsche arbeiten zu niedrigen Löhnen | Bildquelle: WDR / picture alliance / dpa / Jens Büttner

 

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(Erstveröffentlichung 2020. Letzte Aktualisierung 08.09.2020)