Figurentheater

Von Tobias Aufmkolk (WDR)

Quicklebendige Stars aus Holz

In China hat das Figurentheater eine lange Tradition. Die genauen Ursprünge sind nicht bekannt, doch das Spiel mit Marionetten wurde bereits im Jahr 760 nach Christus erwähnt. Ab dem 10. Jahrhundert hatte sich diese ursprünglich den Reichen und Adligen vorbehaltene Spielform in allen Gesellschaftsschichten durchgesetzt. Von da an führten die Spielleute ihre volkstümlichen Geschichten auch auf Märkten und in Freudenhäusern auf.

Das Schattenspiel Wayang Kulit wird in Indonesien seit mehr als 1000 Jahren aufgeführt. Die flachen, oft bunt bemalten Figuren sind aus Büffelleder gefertigt und haben einen Stiel aus Holz. Nur die Arme sind beweglich. Das Spiel findet hinter einer weißen gespannten Leinwand statt. Die Figuren werden von einer Lichtquelle angestrahlt, sodass der Zuschauer nur die Schatten sieht. Die Geschichten des Wayang Kulit haben einen meist mythisch religiösen Inhalt. Die Grundlagen dafür stammen aus uralten hinduistischen Epen.

Aus dem Wayang Kulit entwickelte sich in Teilen Indonesiens viele Jahrhunderte später das Wayang Golek. Die Figuren des Wayang Golek sind deutlich variabler zu spielen, da alle Gliedmaßen beweglich sind. Die Figuren sind im Prinzip Marionetten, die allerdings nicht mit Fäden, sondern durch einen Haltestab gesteuert werden. Auch die einzelnen Gliedmaßen kann der Puppenspieler mit Holzstäbchen bewegen.

Eine ganz besondere Form des Puppentheaters entwickelte sich im 11. Jahrhundert in Vietnam: das Wassermarionettentheater. Diese Spielform entwickelte sich aus der Not heraus. Da es in Vietnam viele Überschwemmungen gibt, verlegten die Spielleute kurzerhand ihre Bühne vom Land ins Wasser. Die Wassermarionetten sind an langen Bambusstangen befestigt, die unter Wasser unsichtbar sind. Die Spielleute können mit Schnüren, die an den Stangen befestigt sind, die einzelnen Gliedmaßen der Puppen steuern. Im Gegensatz zum indonesischen Figurentheater stellt das vietnamesische Wassermarionettentheater hauptsächlich Szenen und Geschichten aus dem Alltag der bäuerlichen Bevölkerung nach.

Wie aus dem Nichts entstand 1684 in Japan das Figurentheater Bunraku. Der japanische Sänger Takemoto Gidayu gründete in Osaka ein Theater und führte dort das Puppenspiel ein. Das Besondere am Bunraku ist die Größe der Puppen. Drei Spieler sind nötig, um eine etwa 1,50 Meter große Figur wie eine Handpuppe zu bewegen. Die Spieler sind zwar sichtbar, tragen aber schwarze Kimonos und sprechen kein Wort. Ein Rezitator, häufig der Autor des Stückes, erzählt dazu in leicht melodischem Tonfall die Geschichte.

Das sizilianische Marionettentheater Opera dei Pupi entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Spiel geht auf die berühmten sizilianischen Straßensänger zurück, die bekannte Rittersagen vortrugen. Die aufwändig gefertigten und kunstvoll verzierten Marionetten erzählen meist mittelalterliche Heldenepen nach. Nicht nur die Puppen haben ein nostalgisches Flair, auch die musikalische Untermalung durch eine Drehorgel hat sich seit den Anfängen nicht verändert.

Die belgische Stadt Lüttich hat zwei Marionetten als eigene "Stadthelden": der trinkfeste Schwätzer Tchantchès und seine Gattin Nanesse. Der Legende nach wurde Tchantchès im Jahr 760 zwischen zwei Pflastersteinen im Lütticher Viertel Outremeuse geboren. Die Geschichten des Marionettentheaters spielen meist Anekdoten aus dem Leben Karls des Großen nach, der immer wieder tatkräftige Unterstützung von Tchantchès bekommt – sei es im Kampf gegen den Teufel oder gegen eine Hexe. Während des dreitägigen Volksfestes um den 15. August haben Tchantchès und Nanesse Hochkonjunktur: In dieser Zeit wird an fast jeder Ecke des Viertels ein Marionettentheater aufgeführt.

Wie kann es anders sein? In Salzburg, der Geburtsstadt von Wolfgang Amadeus Mozart, werden die Geschichten des Marionettentheaters nicht gesprochen, sondern gesungen. Alles begann 1913, als der Figurenschnitzer Anton Aicher dem Publikum seine Version des Mozartschen Singspiels "Bastien und Bastienne" dem Publikum vorstellte. Seitdem hat das Salzburger Marionettentheater zahlreiche klassische Stücke von Mozart, Rossini, Tschaikowsky, Debussy oder Prokofieff auf die Bühne gebracht.

Seit mehr als 60 Jahren bringt das Ost-Sandmännchen Kinder ins Bett. Die animierte Trickfilmpuppe sollte eigentlich erst später an den Start gehen, doch der DDR-Fernsehsender DFF wollte unbedingt schneller sein, als das westdeutsche Fernsehen. Und so lief das ostdeutsche "Unser Sandmännchen" erstmals im November 1959 über den Äther, genau eine Woche vor dem westdeutschen "Sandmännchens Gruß für Kinder". Einen zweiten Sieg konnte das ostdeutsche Sandmännchen auch noch einfahren: Nach der Wende hielt die ARD am ostdeutschen Format fest, während das westdeutsche Sandmännchen in der Versenkung verschwand.

Das westdeutsche Sandmännchen begleitete genau 41 Jahre lang jeden Abend die Kinder ins Bett, dann hatte es ausgedient. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands war nur noch für ein Sandmännchen Platz. Vielleicht hatte es auch mit dem Sendeplatz zu tun: Während der ostdeutsche Sandmann seit 1959 jeden Abend um 18:55 Uhr ausgestrahlt wird, musste der westdeutsche Sandmann mit wechselnden Sendezeiten kämpfen.

Das wohl bekannteste deutsche Puppentheater ist die Augsburger Puppenkiste. Ihr Siegeszug begann, als der Hessische Rundfunk 1953 das musikalische Märchen "Peter und der Wolf" mit den beweglichen Marionetten ausstrahlte. Seitdem sind ganze Generationen von Kindern mit Serien wie "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" oder "Urmel aus dem Eis" groß geworden.

Stand: 06.07.2020, 17:55 Uhr

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