Kriminalistik

Warum sinkt die Verbrechensrate?

In vielen Industrieländern ist die Zahl der registrierten Gewaltverbrechen rückläufig. Wissenschaftler bieten dafür zum Teil verblüffende Erklärungen an.

Von Frank Drescher

Sinkende Kriminalität seit den 1990ern

Im Jahr 2018 war die Kriminalität wieder auf dem Niveau von 1981. Das zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts, die das Bundesinnenministerium jedes Jahr veröffentlicht.

6.710 Fälle von Straftaten pro 100.000 Einwohner sind der Polizei 2018 angezeigt worden. Das sind 20 Prozent weniger als noch 1993, als die Verbrechensrate Deutschlands mit 8.337 Straftaten pro 100.000 Einwohnern ihren Höchststand seit Veröffentlichung der vereinheitlichten Polizeilichen Kriminalstatistik 1953 erreichte.

Das Erstaunliche daran: In vielen westlichen Ländern sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten – ein Anstieg der Fallzahlen in der Nachkriegszeit bis in die späten 1980er oder Mitte der 1990er-Jahre, danach ein Absinken.

Dabei stellt der Anstieg in der Nachkriegszeit nach Ansicht von Wissenschaftlern eine Anomalie dar: Der US-Kriminologe Michael Tonry von der University of Minnesota in Minneapolis erwähnt in einem Fachaufsatz mehrere Studien, die für viele Verbrechen seit dem frühen 19. Jahrhundert rückläufige Fallzahlen aufzeigen. Bei Mord und Totschlag soll sich der Nachweis sinkender Fallzahlen sogar seit dem Mittelalter führen lassen.

Eine Erklärung dazu liefert die Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias, derzufolge technischer Fortschritt und immer stärker spezialisierte Arbeitsteilung die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft in immer stärkere wechselseitige Abhängigkeit bringen. Die würden von Generation zu Generation immer stärker ihr Verhalten kontrollieren.

Aber das erklärt noch nicht den Anstieg der Kriminalität ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Hierbei könnte zum einen eine verfeinerte Methodik bei der Zusammenstellung der Kriminalstatistik eine Rolle gespielt haben. So weist das Bundeskriminalamt darauf hin, dass beispielsweise noch in der Weimarer Republik keine deutschlandweite Kriminalstatistik existierte und dort, wo sie existierte, auch nur Schwerverbrechen erfasste.

Ferner habe für viele Deliktarten früher noch gar keine Gelegenheit bestanden: Solange es beispielsweise noch kaum Autos gab, gab es auch kaum Autodiebstahl. Und solange die meisten Menschen noch im Kaufmannsladen mit Bedientheke einkauften, hatten Ladendiebe weniger Gelegenheit, lange Finger zu machen als nach der Ausbreitung von Supermärkten mit Selbstbedienung.

Ladendiebstahl war zur Zeit der Kaufmannsläden schwieriger als heute | Bildquelle: WDR

Weniger Verbrechen dank strengerer Gesetze?

Doch warum sinken nun seit einiger Zeit die Verbrechensraten in vielen Ländern? Manche Wissenschaftler wie der US-Ökonom Steven Levitt vermuten: Es könnte zumindest teilweise an strengeren Gesetzen und längeren Haftstrafen liegen.

Dem widerspricht Kriminologe Michael Tonry. Er verweist darauf, dass sich in den USA und Kanada die Verbrechensraten über die Jahre ähnlich entwickelt haben, obwohl in den USA ein immer größerer Anteil der Bevölkerung ins Gefängnis kam, während der Anteil der hinter Gittern sitzender Kanadier relativ konstant blieb.

Wie Geburtenrate und Kriminalität zusammenhängen könnten

Für Ökonom Levitt gibt es noch weitere Faktoren, die in den USA für weniger Kriminalität gesorgt haben sollen: Die Einstellung von mehr Polizisten soll einen Rückgang um etwa zehn Prozent bewirkt haben. Weitere 15 Prozent weniger Verbrechen soll der Preisverfall bei der Droge Crack verursacht haben, weil sich dadurch für rivalisierende Drogenbanden der Mord an Konkurrenten finanziell nicht mehr gelohnt habe.

Kinderarmut gilt als Risikofaktor kriminell zu werden | Bildquelle: WDR/mauritius images/Walter G. Allgöwer

Besonders aufsehenerregend war aber der Faktor, den Steven Levitt für den wichtigsten hält: Die Liberalisierung der Abtreibung durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA 1973. Dadurch seien viele Kriminelle erst gar nicht geboren worden, und mit etwa anderthalb Jahrzehnten Zeitverzögerung sei dieser Effekt zutage getreten.

Levitt argumentiert, dass ungewollte Kinder gleich mehreren Risikofaktoren ausgesetzt seien, um im späteren Leben kriminell zu werden. Dazu zählten Armut, das Aufwachsen in einem Alleinerziehendenhaushalt, geringe Bildung der Mutter und deren niedriges Alter bei der Geburt. Seinen Untersuchungen zufolge zeige sich der von ihm behauptete Effekt in US-Bundesstaaten, die ihr Abtreibungsrecht bereits vor 1973 liberalisiert hätten, entsprechend früher. 

Diese These sorgte in den USA für Kontroversen. Ganz so heftig wären die vielleicht nicht ausgefallen, wenn Levitt noch ein weiteres Urteil der Obersten US-Gerichtshofs für seine Argumentation herangezogen hätte. Es erging im Jahr vor der Abtreibungsentscheidung. 1972 entschieden die US-Bundesrichter nämlich, dass auch Unverheiratete Zugang zu Verhütungsmitteln haben dürfen.

Eine Vielzahl an Verhütungsmitteln liegt ausgebreitet da. Auf Prospekten, die Hinweise zu natürlichen Verhütungsmethoden geben, liegen eine Spirale, eine Pillenpackung, Kondome und ein Diaphragma. | Bildquelle: Mauritius