Nachbarschaft

Die Broken-Windows-Theorie

Laut der Broken-Windows-Theorie können Anzeichen von Verwahrlosung in einer Stadt den Boden für Verbrechen bereiten. Auf dieser Grundlage entstand beispielsweise die Null-Toleranz-Politik in New York. Aber die Theorie steht auf wackeligen Beinen.

Von Sabrina Loi

Hartes Durchgreifen gegen Verwahrlosung

Im März 1982 erschien in der US-Zeitschrift "The Atlantic" ein Artikel unter dem Titel "Broken Windows: The police and neighborhood safety". Die Sozialwissenschaftler George Kelling und James Wilson beschrieben darin, wie wichtig das Erscheinungsbild eines Stadtviertels ist.

Macht ein Stadtviertel einen verkommenen Eindruck – zum Beispiel durch kaputte Scheiben (= Broken Windows) an verwahrlosten Gebäuden –, so signalisiere das, dass es kein Interesse an öffentlicher Ordnung oder an den Gesetzen gebe. Damit sei die Grundlage für Kriminalität gegeben, so die Theorie.

Die Forscher waren der Meinung, damit würde eine Abwärtsspirale beginnen: Sie könnte von den zerbrochenen Fensterscheiben über kleinere Regelverstöße bis hin zu Raub und Mord führen.

Diese These wandelte Rudolph Giuliani, der von 1994 bis 2001 Bürgermeister von New York war, in die Tat um. Er baute seine Null-Toleranz-Politik auf der Broken-Windows-Theorie auf.

Infolgedessen griff die Polizei bei kleineren Verbrechen wie Graffiti, Schwarzfahren oder Ruhestörung genauso hart durch, wie bei Gewaltverbrechen, Diebstahl oder Drogendelikten.

Tatsächlich ging die Kriminalitätsrate Mitte der 1990er-Jahre in New York zurück – für Befürworter der Broken-Windows-Theorie ein klares Zeichen für ihre Richtigkeit. Aber bewiesen ist der Zusammenhang nicht.

Theorie ohne empirische Überprüfung

Die beiden Sozialwissenschaftler Kelling und Wilson hatten selbst keine Versuche durchgeführt, um ihre Theorie mit systematisch erhobenen Daten empirisch zu belegen.

Ihre These beruhte vor allem auf einem Experiment des Psychologen Philip Zimbardo. Er hatte im Jahr 1969 beobachtet, wie lange es dauerte, bis ein Auto, das kein Kennzeichen mehr hatte, also vom Besitzer offensichtlich aufgegeben worden war, von Passanten in zwei Stadtvierteln ausgeschlachtet wurde.

In der New Yorker Bronx dauerte es keine zehn Minuten, bis dort jemand begann, die Batterie und Heizung zu klauen und das Auto nach und nach auseinandergenommen wurde. Das liege daran, dass die Bewohner in der Bronx es gewohnt seien, dass so etwas niemanden interessiere, so die Interpretation von Kelling und Wilson. Schließlich würden in der Bronx ständig Autos zurückgelassen und Sachen gestohlen.

Nicht aber in Palo Alto, einer gepflegten Stadt in Kalifornien. Dort hatte sich nach einer Woche noch immer niemand um das verlassene Auto gekümmert. Zimbardo legte deshalb nach und zertrümmerte selbst ein Fenster des Autos. Danach beteiligten sich auch andere an der Zerstörung. Innerhalb von 24 Stunden war der Wagen komplett auseinandergenommen.

Für Kelling und Wilson zeigte das, dass es egal ist, in welcher Umgebung man sich befindet: Sind die ersten Regelverstöße offensichtlich, ist der Schritt zur Kriminalität nur noch ein kleiner. Ihre Folgerung: Um die große Kriminalität zu verhindern, müssten daher schon die kleinsten Fehltritte geahndet werden.

Verlassene Autos werden schnell ausgeschlachtet | Bildquelle: Pixabay/Jeimo

Ein neues Experiment: Müll führt zu mehr Müll

Rund 25 Jahre vergingen, bis Forscher aus den Niederlanden die These der Broken-Windows-Theorie auf den Prüfstand stellten: Im Dezember 2008 veröffentlichte Kees Keizer, Sozialpsychologe der Universität Groningen, gemeinsam mit zwei Kollegen die Ergebnisse ihrer Studie im Fachmagazin Science. Die Feldversuche zeigten, dass die Umgebung tatsächlich das Verhalten von Menschen beeinflussen kann.

Keizer erschuf in seinen Experimenten Situationen, in denen offensichtliche Verbote gebrochen wurden, und beobachtete dann, ob dies Menschen dazu verleitet, weitere Gesetze zu brechen.

In einem der Versuche hängte er Werbeflyer an die Lenker von Fahrrädern, die in einer Gasse in der Nähe einer Groninger Einkaufsstraße geparkt waren. Anschließend beobachtete er, wie viele der Zettel von den Besitzern auf den Boden geworfen wurden. Einen Abfalleimer gab es in der Gasse nicht. An der Wand machte zudem ein Schild darauf aufmerksam, dass Graffiti verboten seien.

Im ersten Teil des Versuchs waren die Wände in der Gasse sauber. Im zweiten Teil des Versuchs hatte er die Wände mit Graffiti besprühen lassen – das Graffiti-Verbotsschild blieb aber deutlich sichtbar. Waren die Wände sauber, warf nur jeder dritte Radfahrer den Zettel auf die Straße. Waren Graffiti auf den Wänden, waren es mit 69 Prozent mehr als doppelt so viele.

Regelverstöße anderer begünstigen eigene Regelverstöße

Bei einem anderen Versuch wurde ein Parkplatz durch einen Bauzaun abgesperrt. Zwischen zwei Teilen des Bauzauns war eine etwa 50 Zentimeter breite Lücke. Direkt daneben hing ein Schild, dass der Durchgang hier verboten sei und der Eingang sich 200 Meter weiter befinde. Außerdem hing ein zweites Schild am Zaun, das verbot, Fahrräder daran festzubinden.

Im ersten Teil des Experiments waren Fahrräder einen knappen Meter vom Zaun entfernt abgestellt, aber nicht daran festgebunden. In dieser Zeit widersetzten sich nur 27 Prozent der Personen, die zum Auto wollten, dem Schild und gingen durch die Lücke im Zaun auf den Parkplatz.

Im zweiten Teil des Experiments wurden vier Fahrräder direkt an den Zaun angeschlossen. Während dieser Zeit setzten sich 82 Prozent der Personen über das Verbot hinweg und betraten den Parkplatz durch die Lücke im Zaun.

Die Grundidee der Broken-Windows-Theorie war damit bestätigt: Die Umgebung hat einen Einfluss darauf, wie sich Menschen verhalten. Ist es offensichtlich, dass andere bereits kleine Vergehen begangen haben, die nicht geahndet wurden, verleitet dies mehr Personen dazu, ebenfalls gegen Regeln zu verstoßen. Aber kann dies tatsächlich zu einem schwerwiegenden kriminellen Verhalten führen?

Führen erste Normverstöße zu weiteren Verstößen? | Bildquelle: dpa/Wolfgang Kumm

Keine massive Zunahme von Kriminalität nachweisbar

Soziologe Keizer wollte auch wissen, ob eine verwahrloste Umgebung zum Stehlen animiert. Er drapierte einen Umschlag so in einem Briefkasten, dass er noch halb aus dem Briefschlitz heraushing. Durch das Sichtfenster im Kuvert war deutlich zu sehen, dass sich ein Fünf-Euro-Schein darin befand.

In der Ausgangslage des Versuchs waren der Postkasten und auch der Boden darum herum sauber. In dieser Situation stahlen 13 Prozent der Passanten den Umschlag mit dem Geld. Als der Briefkasten anschließend mit Graffiti beschmiert war, stahlen ihn 27 Prozent der Passanten. In einem weiteren Versuch war der Briefkasten zwar sauber, aber auf dem Boden lag Müll. In dieser Situation nahmen 25 Prozent der Passanten den Umschlag mit.

Durch diese Experimente sah Keizer die Abwärtsspirale der Broken-Windows-Theorie bestätigt: Eine verwahrloste Umgebung könne auch zu Delikten wie Diebstahl führen.

Aber er bekam Kritik aus Deutschland: Die Soziologen Marc Keuschnigg und Tobias Wolbring versuchten, die Daten aus den Niederlanden zu reproduzieren. Tatsächlich kamen sie zu ganz ähnlichen Ergebnissen, wie die Forscher aus den Niederlanden – aber nur, solange es sich um kleine Geldbeträge handelte, die durch das Kuvertfenster zu sehen waren.

Keuschnigg und Wolbring ergänzten in ihrer Studie jedoch die Versuche mit zwei weiteren Geldscheinen: Neben dem 5-Euro-Schein waren in weiteren Versuchen nun auch jeweils ein 10-Euro-Schein und ein 100-Euro-Schein zu sehen.

Es zeigte sich, dass eine verwahrlost erscheinende Umgebung nur bei den kleineren Beträgen dazu führte, dass mehr Menschen diese für sich einsteckten. Bei den 100-Euro-Scheinen war es egal, ob die Umgebung verwahrlost und vermüllt aussah oder ordentlich und gepflegt war: Die Anzahl der Personen, die den Umschlag mit dem Geld einsteckten, lag konstant bei 13 Prozent.

Die Soziologen zogen den Schluss, dass die Broken-Windows-Signale nur einen Einfluss auf vergleichsweise schwache Normverletzungen haben, aber nicht unbedingt den Boden für Kriminalität bereiten. Das widerspricht der Vorstellung von der Abwärtsspirale, die der Broken-Windows-Theorie zugrunde liegt. Diese These ist also bis heute nicht belegt.

Kleinere Geldbeträge werden eher eingesteckt | Bildquelle: WDR/Sabrina Loi

(Erstveröffentlichung: 2017. Letzte Aktualisierung: 18.03.2020)

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