Filmszene: Ein weißer Mann in Uniform entreißt ein Aboriginal-Mädchen seiner Familie.

Aboriginals

Die geraubten Kinder der Aboriginals

Jahrzehntelang beteiligte sich der australische Staat an Entführungen: Zehntausende Aboriginal-Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, um sie als billige Arbeitskräfte auszubeuten und sie gesellschaftsfähig für das weiße Australien zu machen.

Von Ingo Neumayer

Erst in den 1970er Jahren endete diese menschenverachtende Praxis. Doch an den Folgen leiden die so genannten "Geraubten Generationen" ("Stolen Generations") und ihre Familien noch heute.

"Schutzherren" bestimmen über das Schicksal der Ureinwohner

Als die Siedler im 19. Jahrhundert ständig mehr Land für sich beanspruchen, mehren sich gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Aboriginals. Viele Ureinwohner werden gegen ihren Willen in Reservate gebracht, wo sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Die britische Regierung regt 1838 an, sogenannte "Schutzherren" ("Protectors") für die Aboriginals in den jeweiligen Regionen Australiens zu ernennen. Doch Schutz bieten diese nicht.

Stattdessen wird versucht, die Aboriginals in den Reservaten an die westlichen Lebensformen anzupassen. Kulturelle Gebräuche und Gepflogenheiten werden verboten, teilweise dürfen die Aboriginals nicht einmal ihre eigene Sprache sprechen.

Kinder werden in den Reservaten in separaten Schlafhäusern untergebracht, um sie dem kulturellen Einfluss ihrer Eltern zu entziehen. Doch die Aboriginals passen sich nicht an und sterben auch nicht – wie erwartet – aus.

Australien soll weiß werden

Anfang des 20. Jahrhunderts kommen auch in Australien die Ideen der Rassenlehre und der Eugenik an, die versucht, den Anteil vermeintlich positiver Erbanlagen zu vergrößern.

Das Idealbild des Australiers dieser Zeit ist und bleibt weiß. So wird versucht, die Zuwanderung ins Land auf europäische Weiße zu beschränken. Und auch die Aboriginals sollen Schritt für Schritt "weggekreuzt" werden.

Die offiziellen Stellen verfügen, dass Kinder aus Verbindungen zwischen Weißen und Aboriginals von ihren Eltern getrennt werden. In den meisten Fällen geschieht das mit Gewalt und unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Ein Gerichtsbeschluss ist nicht nötig, um ein Kind in die Obhut des Staates aufzunehmen.

Die Kinder werden in Heime oder christliche Missionen gesteckt oder an Pflege- oder Adoptiveltern gegeben. Sie sollen so Teil der weißen Gesellschaft werden. Sobald sie im heiratsfähigen Alter sind, werden sie zwangsverheiratet – mit einem oder einer Weißen. Der Plan: Innerhalb von drei Generationen sollen so die Aboriginals zu Weißen "umgezüchtet" werden.

Kinder vom Gumatj-Clan bereiten sich auf einen traditionellen Tanz vor

Aboriginal-Kinder wurden von ihrer Kultur entfremdet

Zweifelhafter "Akt der Fürsorge"

Die "Chief Protectors" sehen in diesem menschenverachtenden Vorgehen angeblich sogar einen Akt der Fürsorge. Schließlich würden die Kinder und ihre Nachkommen so aus diesem dem Untergang geweihten Volk der Aboriginals emporgehoben.

Doch auch wirtschaftliche Gründe spielen eine Rolle. Viele der Kinder werden zu Haushaltshilfen oder Hilfsarbeitern ausgebildet. Anstatt in Reservaten vom Staat versorgt zu werden, fügt man sie so dem Arbeitsmarkt zu, meist zu Hungerlöhnen.

In den 1930er- und 1940er-Jahren werden besonders viele Kinder auf staatliche Anweisung hin geraubt. Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt zwischen 50.000 und 100.000 Aboriginal-Kinder ohne ihre Eltern aufwachsen müssen. Das Leben in den Heimen und bei den Pflegefamilien ist hart: Prügel, Schikanen und sexueller Missbrauch sind an der Tagesordnung.

Ein Aboriginal-Mann arbeitet als Steinklopfer.

Aboriginals wurden als billige Arbeitskräfte missbraucht

Erst 1969 rückt die australische Regierung offiziell von dieser Politik ab, vereinzelt werden aber auch noch in den 1970er-Jahren Aboriginal-Kinder verschleppt und von ihren Familien getrennt.

Und auch nach dem Ende dieser menschenverachtenden Praxis bleiben Probleme bestehen: Jede dritte Familie ist auseinandergerissen worden. Ein Großteil der "Stolen Generations" hat traumatische Erlebnisse hinter sich, die ihren weiteren Lebensweg negativ prägen.

Entfremdet von ihrer Kultur, ihrer Heimat und ihrer Familie, greifen doppelt so viele von ihnen zu Drogen. Im Vergleich zu Aboriginals, die bei ihren Eltern aufwuchsen, landen dreimal so viele im Gefängnis. Die Regierung ignoriert das Problem jahrzehntelang, erst nach und nach rücken die Geschehnisse ins Bewusstsein der australischen Gesellschaft.

Filmszene "Long Walk Home": Drei Aborigines-Mädchen hüllen sich in Mäntel.

Viele Kinder sind ein Leben lang traumatisiert (Filmszene)

Entschädigungen und Entschuldigungen

In den 1990er-Jahren verarbeiten immer mehr Aboriginals das Unrecht, das den Stolen Generations angetan wurde, in Theaterstücken, Romanen, Bildern und Liedern. 1997 wird ein Regierungsbericht namens "Bringing Them Home" veröffentlicht, der mehr als 1000 Aussagen von geraubten Kindern in erschütternder Weise zusammenfasst.

Die australische Öffentlichkeit hinterfragt damit zum ersten Mal auf breiter Basis die Entstehungsgeschichte ihres Landes und die Taten der Pioniere.

1999 ziehen die ersten Aboriginals vor Gericht und verlangen finanzielle Entschädigungen vom Staat. Doch erst 2007 wird einem Aboriginal eine Entschädigung zugesprochen. Bruce Trevorrow, der 1957 als Baby seinen Eltern entrissen wurde und danach bei einer weißen Familie aufwuchs, erhält umgerechnet 330.000 Euro als Ausgleich – für ein Leben voller Depressionen, Alkoholprobleme und Entfremdung von der eigenen Kultur.

Ein Jahr später kommt es zu einer historischen Geste. Am 13. Februar 2008 verliest Premierminister Kevin Rudd eine Erklärung im Parlament, in der er sich im Namen der australischen Regierung bei den Aboriginals und speziell bei den Stolen Generations entschuldigt: für den Schmerz und das Leid, für die Demütigungen und Erniedrigungen, dafür, dass Familien und Gemeinschaften auseinandergerissen wurden.

Viele tausend Aboriginals, aber auch weiße Australier, verfolgen die Rede auf Großbildleinwänden in den Großstädten oder vor dem winzigen Gemeinschaftsfernseher in abgelegenen Dörfern. Sie jubeln, liegen sich in den Armen. Und auch wenn bis heute noch vieles im Argen liegt im Umgang Australiens mit seinen Ureinwohnern: Ein weiterer Schritt ist dadurch gemacht.

Australiens Premierminister Kevin Rudd entschuldigt sich im Februar 2008 offiziell bei den Aborigines.

Erst 2008 entschuldigt sich die australische Regierung

(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 07.02.2023)

Quelle: WDR

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