Mädchen vom äthiopischen Stamm der Kara mit bemaltem Gesicht.

Naturvölker

Zoé, Surma, Himba, Veddas: Vier Naturvölker

Weltweit sind Naturvölker in ihrer Existenz bedroht. Doch so unterschiedlich die Völker sind – die Probleme, auf die sie zunehmend stoßen, sind überall ähnlich: das Schwinden ihres Lebensraums, Touristenströme und Missionare. Vier Beispiele.

Von Martina Frietsch

Südamerika: die Zoé

Ganz im Norden Brasiliens, am Rio Cuminapanema im nördlichen Amazonasbecken, leben in mehreren kleinen Dörfern die letzten Zoé-Indianer, die zu den Naturvölkern zählen.

Ihr markantestes Kennzeichen: der bis zu 15 Zentimeter lange Lippenpflock, der durch die Unterlippe gebohrt wird. Männer und Frauen tragen ihn. Selbst die Kinder bekommen schon im Alter von etwa acht Jahren einen kleinen Pflock eingesetzt. Nur wer den Pflock trägt, gehört zum Stamm und ist ein Mensch, eben ein "Zoé".

Die Zoé leben in kleinen Dorfgemeinschaften, die mehrere Tagesmärsche voneinander entfernt sind. Die Dörfer selbst bestehen aus mehreren offenen Hütten, Hängematten dienen als Schlafstätten. Die Zoé leben von der Jagd, von Früchten, Honig und vor allem vom Maniok, den sie anbauen.

Als Medikamente dienen Heilpflanzen, über die die Zoé große Kenntnisse besitzen. An Werkzeugen haben sie nur das zur Verfügung, was sie traditionell selbst herstellen – Steinbeile, Steinschleudern, Pfeil und Bogen. Für den Haushalt werden Keramikgefäße angefertigt.

Ungewöhnlich ist die soziale Organisation: Ein Mann darf mehrere Frauen heiraten, ebenso darf eine Frau mehrere Ehemänner haben. Die Familie hat eine gemeinsame Hütte, Kinder werden ebenfalls gemeinsam großgezogen.

Und grundsätzlich gilt bei den Zoé: Alle sind gleich. Niemand besitzt mehr als der andere. Stirbt einer aus der Gemeinschaft, wird er mit seinen wenigen Habseligkeiten begraben.

Entdeckt wurden die Zoé 1976 zufällig beim Bau einer Straße durch das nördliche Amazonasbecken. Nach einem erfolglosen Kontaktversuch durch die brasilianische Indiander-Schutzbehörde "Funai" wurden die Zoé in Ruhe gelassen. Die Arbeiten in dem Gebiet wurden eingestellt.

Mitte der 1980er-Jahre drangen Missionare der "New Tribes Mission" trotz strikten Verbots zu den Zoé vor. Sie schleppten Grippeviren ein, die für die Indianer tödlich waren: 45 von ihnen starben. Doch obwohl der Kontakt mit den Weißen schreckliche Folgen für die Zoé hatte, ließen die Missionare nicht locker. Sie siedelten die Zoé um, weitere Krankheiten breiteten sich aus.

Als die Schutzbehörde die Indianer fand, waren sie krank und unterernährt. Nach dem Massensterben gibt es inzwischen nur noch rund 200 Angehörige dieses Volkes. Sie konnten in ihr angestammtes Gebiet zurückkehren.

Dennoch folgten weitere illegale Versuche, zu den Zoé vorzudringen: ein Tourismus-Projekt, das in letzter Minute gestoppt wurde, und wieder: Missionare. Im Jahr 1998 wurde das gesamte Gebiet, in dem die Zoé leben, zu ihrem Schutz gesperrt. Niemand darf es mehr betreten, Ausnahmen gibt es nicht.

Ostafrika: die Surma

In Äthiopien und im benachbarten Sudan, in einer der ärmsten Gegenden Afrikas, leben die Surma. Ihre Heimat ist eine Region, die von permanenten Konfliken geschüttelt wird, aber auch eine der letzten fast unberührten Wildnisgegenden des Kontinents.

Das Gebiet, das die Surma als Viehzüchter und Kleinbauern bewohnen, ist gefährdet, ebenso wie die Surma selbst: Die äthiopische Regierung betrachtet sie als rückständig und will sie "zivilisieren". Aus dem Nachbarland Sudan kommen Kriegsflüchtlinge, die moderne Waffen bringen. Und die Traditionen, die die Surma pflegen, locken wegen ihrer Exotik auch noch Touristen an.

Wie viele Surma es gibt, lässt sich allenfalls schätzen. Die aktuellste Zahl stammt von 1998: Demnach leben knapp 20.000 Surma in Äthiopien und eine Minderheit von rund 1000 im Sudan.

Auffälligstes Merkmal der Surma sind die Lippenteller der Frauen. Vor ihrer Hochzeit, etwa im Alter von 20 Jahren, beginnt die Prozedur: In die durchbohrte Unterlippe wird der erste, mehrere Zentimeter große Teller eingesetzt.

Mit immer größeren Tellern, meist aus Ton gefertigt, wird die Lippe im Lauf von sechs bis zwölf Monaten gedehnt, so weit es geht. Das Schönheitsideal der Surma: Je größer der Teller, desto wertvoller die Braut.

Surma-Frau mit Lippenteller.

Die Lippenteller der Surma Frauen sind besonders auffällig

Was heute als schön gilt, war ursprünglich vermutlich genau das Gegenteil: Mit dem Einsetzen der Lippenteller sollten die Frauen verunstaltet werden, um sie für Sklavenfänger wertlos zu machen. Ein weiteres Schönheitsideal sind – bei Männern und Frauen – Ziernarben, die in bestimmten Mustern in die Haut geritzt werden

Die Surma sind ein kriegerisches Volk. Die traditionellen Waffen, die zwei bis drei Meter langen Stöcke, werden heute vor allem beim Donga-Kampf eingesetzt, der als Sport, als Männlichkeitsritual und zum Lösen echter Konflikte dient.

Bei Auseinandersetzungen außerhalb ihrer Gemeinschaft, zum Beispiel mit den benachbarten Bomé, werden moderne Schusswaffen eingesetzt – auf beiden Seiten.

Diese bekommen die Surma, die sonst nur wenig mit der westlichen Zivilisation in Berührung kommen, von den Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland Sudan. Die "Kalaschnikow" ist für die Surma heute ebenso ein Statussymbol wie die Anzahl der Rinder, die ein Mann besitzt.

Südliches Afrika: die Himba

Sie waren einst ein wohlhabendes, stolzes Volk von Viehzüchtern, das halbnomadisch in seinem angestammten Gebiet Kaokoland im Norden Namibias lebt. Doch die Ankunft der modernen Zivilisation und Scharen von Touristen machen der Abgeschiedenheit der Himba ein Ende. Und damit auch ihrem traditionellen Lebenswandel.

Wo die "Zivilisation" sie noch nicht erreicht hat, leben die Himba wie seit Jahrhunderten von Ziegen- und Rinderzucht. Mit ihren Herden ziehen sie zu Wasserstellen. Zwischen diesen Wanderungen leben sie in Dörfern, die aus kegelförmigen Häusern bestehen.

Großen Wert leben die Himba auf Schönheit und Körperpflege. Männer wie Frauen reiben sich täglich mit einer Creme aus Fett, Kräutern und Ockerfarbe ein – eine Prozedur, die mitunter Stunden in Anspruch nehmen kann. Diese Creme schützt die Haut und verleiht den Himba die typische rote Hautfarbe.

Zur Schönheit gehört auch der Schmuck: Schon die Kleinsten bekommen ihn angelegt, wenn sie wenige Tage alt sind. Gefertigt werden die Stücke aus Leder, Metall, Perlen und Muscheln.

Die Himba sind direkte Nachfahren der Herero und kamen etwa im 16. Jahrhundert aus Zentralafrika nach Süden. Sie ließen sich im unwirtlichen Kaokoland nieder und wurden dort weitgehend in Ruhe gelassen.

Ein Himbamädchen mit Baby.

Die Himba sind direkte Nachfahren der Herero

Anfang der 1980er-Jahre jedoch vernichtete eine verheerende Dürre fast den gesamten Viehbestand der Himba. Zudem wurden sie in den Unabhängigkeitskampf Namibias von Südafrika verwickelt. Die schätzungsweise 6000 bis 7000 Himba im Kaokoland haben sich nie vollständig von diesen Ereignissen erholt.

Nun droht neue Gefahr: Die Verkehrserschließung macht der Abgeschiedenheit der Himba ein Ende. Mit den Straßen kommen die Touristen und auch die Missionare.

Viele Himba sind heute durch Zwangschristianiserung und unkontrollierten Tourismus ihrer Traditionen und ursprünglichen Lebensweise beraubt. Und wie bei so vielen Naturvölkern endet diese Entwurzelung in Armut und Alkoholismus.

Von der namibischen Regierung hat das Volk keine Hilfe zu erwarten: Sie bezeichnet die Himba als rückständig und unzivilisiert. Vorstöße, den Lebensraum der Himba zum Schutzgebiet zu erklären, blieben erfolglos.

Schon eher ist die Regierung bereit, die Himba als Touristenmagnet zu nutzen: In Schaudörfern wird die traditionelle Lebensweise vorgeführt. Als Fotoobjekte und mit dem Verkauf von Schmuck verdienen sich Angehörige der Himba etwas Geld.

Asien: die Veddas

Sie sind die Ureinwohner Sri Lankas, leben seit zehntausenden Jahren auf der Insel und gelten als älteste Rasse im südasiatischen Raum. Doch die Veddas haben kaum eine Überlebenschance. Nur noch wenige Hundert von ihnen sind übrig geblieben, so wird geschätzt.

Sie nennen sich selbst "Wanniya-laeto" – "die aus den Wäldern", denn der Dschungel ist ihr Lebensraum. Dort lebten sie Jahrtausende lang von der Jagd, lebten von und mit dem Wald. Zur Jagd benutzten sie Pfeil und Bogen, als Gehilfen waren Hunde im Einsatz.

Doch durch Rodungen, Umwandlungen des Urwalds in Ackerland und die Gründung immer neuer Siedlungen verschwand nach und nach der lebensnotwendige Dschungel. Viele Veddas wurden umgesiedelt, vermischten sich mit Singalesen und Tamilen, die heute die hauptsächlich die Insel bewohnen.

Vater und Sohn vom Volksstamm der Veddas.

Von den Veddas gibt es nur noch wenige Hundert

Inzwischen können die Veddas nicht einmal der Jagd nachgehen, denn ihr Lebensraum liegt in einem Gebiet, das von der Regierung zum Naturschutzgebiet erklärt wurde – Jagdverbot mit eingeschlossen.

Viele der verbliebenen Veddas leben in kleinen Clans und wohnen in einfachen Hütten aus Lehm und Holz. Sie versuchen, ihre Tradition, ihre Sprache weiter zu leben und mit ihrem umfangreichen Wissen über Pflanzen und Tiere, an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Andere wohnen in Dörfern, sind als Lohnarbeiter beschäftigt oder leben vom Verkauf an Touristen, welche die Veddas auch schon für sich entdeckt haben. Seit etlichen Jahren kümmert sich auch die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen um das Schicksal der Veddas – bisher leider vergeblich.

Quelle: SWR | Stand: 11.09.2020, 15:27 Uhr

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