Kleiner Junge trägt einen Sack mit Müll durch die Slums von Kalkutta

Asien

Kolkata / Kalkutta

"Stadt der Freude" nennen die Einwohner Kolkatas ihre Stadt, das frühere Kalkutta. Für westliche Betrachter erstaunlich, denn der größte Teil der Bevölkerung lebt in bitterer Armut. Doch hinter dem Elend versteckt sich die strahlende Seite Kolkatas.

Von Götz Bolten

Leben und Sterben in Kolkata

Offiziell leben rund 15 Millionen Menschen in Kolkata, inoffizielle Schätzungen gehen von mehr als 30 Millionen Einwohnern aus. In jedem Fall ist Kolkata, das während der britischen Kolonialzeit bis 2001 Kalkutta hieß, ein Moloch, der immer mehr Menschen anzieht.

Mit den vielen Millionen Menschen kam das Elend, das die Stadt viel berühmter gemacht hat als ihre Bauwerke oder ihre koloniale Vergangenheit.

Kolkata ist für viele Ausländer zu einem Inbegriff des Elends der Dritte-Welt-Länder geworden. Und sie haben recht: Das Leben in Indien, besonders in Kolkata, lässt sich nicht mit dem Leben im Westen vergleichen. Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung sind reich oder gehören dem gehobenen Mittelstand an. Nur 20 Prozent können regelmäßig die Miete bezahlen und müssen nicht hungern.

Für die Menschen der niederen sozialen Klassen beginnt mit jedem Sonnenaufgang ein neuer Kampf ums Überleben für sich und ihre Familie. Sie leben zum größten Teil in einer gesetzesfreien Zone: Nur einer von fünf Arbeitern hat einen vertraglich gesicherten Arbeitsplatz.

Die anderen sind Tagelöhner, die mit umgerechnet einem bis drei Euro für einen Zwölf-Stunden-Tag entlohnt werden – falls sie am Abend überhaupt eine Rupie sehen, denn Tagelöhner arbeiten fast immer ohne arbeitsrechtliche Grundlage.

In den Armenvierteln Kolkatas wird das Grauen der Armut besonders deutlich: Mehr als zwei Drittel der Menschen leben in Slums, Kinder suchen in der offenen Kanalisation nach verkaufbarem Müll, entstellte und verkrüppelte Menschen flehen um Essen.

Blick über Kolkata

Offiziell leben rund 15 Millionen Menschen in Kolkata

Die Kolonialzeit

1495 wurde der Name des Fischerdorfs Kalikata, aus dem die Engländer 1690 den Namen Kalkutta ableiteten, erstmals in alten Schriften erwähnt. In der Gründerzeit war von der heutigen Armut noch nichts zu spüren. Die Stadt florierte. Viele Kolonialmächte hatten Handelsniederlassungen in der Nähe der Stadt. Dank des Zugangs zum Meer wurde Kalkutta zur Handelsmetropole.

Bis 1911 war Kalkutta die Hauptstadt der Kolonie Britisch-Indien und Sitz des britischen Vizekönigs. Aus den Jahrhunderten der britischen Kolonialzeit stammen auch die viktorianischen Verwaltungsgebäude und Prachtbauten. Das aristokratische Erbe der Engländer bildet heute einen befremdlichen Kontrast zu dem hektischen Treiben und der Armut auf den Straßen.

Alles im Fluss

In Kolkata, wie in ganz Indien, ist die Religion ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Die Menschen beten nicht nur im Tempel, sondern ganz öffentlich – am liebsten am Fluss Hooghly, einem Seitenarm des heiligen Flusses Ganges. An den Steintreppen, die zum Ufer führen, sind der Tod und der Umgang mit den Toten und Sterbenden etwas Alltägliches.

Zehntausende Hindus strömen Tag für Tag zu den Ghats, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Direkt am Wasser verbrennen sie in einer religiösen Zeremonie ihre Toten. Nur Menschen, die als rein gelten, wie Kinder oder Priester, werden unverbrannt in den Fluss geworfen.

Außer Menschenleichen landen Tierkadaver, Kot, ungefilterte und giftige Abflüsse industrieller Betriebe im Fluss. Dementsprechend ist das Wasser an vielen Stellen des Ganges verseucht: Werte von 1,5 Millionen Kolibakterien pro Zentiliter sind keine Seltenheit – erlaubt sind in Indien 500.

Trotzdem gehen Millionen Menschen in Kolkata täglich in den Fluss, um sich zu waschen, die Zähne zu putzen oder sogar um das Wasser zu trinken. Der Glaube an die religiöse Reinheit des Wassers lässt sie über den weltlichen Schmutz hinwegsehen. Ein Glaube, der so stark ist, dass er den Menschen auch dabei hilft, ihre Armut und verzweifelten Lebensumstände zu ertragen.

Ohne jeden Anflug von Ironie nennt der Romanautor Dominique Lapierre Kolkata "Stadt der Freude" und beschreibt damit das positive Lebensgefühl der Menschen in dieser Stadt, das westlichen Beobachtern rätselhaft erscheint.

Menschenmassen am Flussufer des Ganges

Das Leben spielt sich am und im Fluss ab

Arme Stadt mit reicher Kultur

Während Delhi für die große Politik und Bombay/Mumbai für wirtschaftlichen Aufschwung steht, steht Kolkata für die kulturelle Vielfalt des Landes. Hier gibt es zum Beispiel die größte Bibliothek des Landes. Auf rund 30 Bühnen wird Theater gespielt und es gibt mehr als 30 Museen in Kolkata.

Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore verbrachte sein Leben hier, genauso wie Oscar-Preisträger Satyajit Ray. Besonders stolz sind die Menschen auf die florierende Filmszene. Kolkata ist die Hauptstadt des indischen Autorenfilms, einer intellektuellen Spielart des indischen Kinos, die ohne obligatorische Tanzszenen und Kitsch auskommt und dafür auf eine kritische Betrachtung der politischen und sozialen Lebensumstände setzt.

Viele, die Kolkata in den vergangenen Jahren besucht haben, sagen, die Lage habe sich verbessert, denn auf den Straßen sei nicht mehr so viel Armut zu sehen. Andere behaupten, die Regionalverwaltung habe die Slums und Ghettos am Stadtrand ausgebaut und die Armen dorthin vertrieben.

Trotz eines gigantischen Beamtenapparates von 40 Millionen Menschen, der das ganze Land verwalten und kontrollieren soll, lassen sich kaum verlässliche Informationen über die Lebensumstände in der Stadt finden.

(Erstveröffentlichung 2005. Letzte Aktualisierung 18.03.2020)

Quelle: WDR

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