Madagaskar

Von Christine Buth (WDR)

Experimentierkasten der Evolution

400 Kilometer über das Meer zu reisen – auf einem Baumstamm und ohne Verpflegung – das ist nichts für Elefanten, Giraffen und Löwen. Nur die zähesten tierischen Seefahrer schafften es nach Madagaskar. Bis vor 20 Millionen Jahren trugen Strömungen immer wieder kleinere Tiere vom afrikanischen Kontinent auf die Insel. Dann änderte sich der Fluss des Meeres und Madagaskar wurde endgültig isoliert. In der Abgeschiedenheit ging die Evolution ganz eigene Wege: Drei Viertel der Tiere auf Madagaskar sind endemisch, das heißt: Es gibt sie nirgendwo sonst auf der Welt.

In den Wesen, die nachts die Wipfel bevölkern, glaubten die Madegassen die Geister ihrer Toten zu erkennen. Die madegassischen Primaten, zu denen heute etwa 40 Arten gehören, wurden deshalb später "Lemuren" genannt, nach den Totengeistern der Römer. Der Katta, das Nationaltier Madagaskars, ist ein untypischer Vertreter seiner Art: Er ist tagaktiv, hält sich überwiegend am Boden auf und sein Aussehen ist wenig geisterhaft. Katta-Männchen können ihren langen geringelten Schwanz als Waffe einsetzen. Rangordnungskämpfe tragen sie nicht mit Klauen und Zähnen aus, sondern mit einem Duell der Drüsen. Sie beschmieren ihren Schwanz mit dem übelriechenden Sekret ihrer Armdrüsen und wedeln damit vor der Nase des Konkurrenten herum – bis der Verlierer "verduftet". Die Nase des Menschen dagegen ist zu stumpf, um den üblen Geruch wahrzunehmen.

Das Fossa ernährt sich hauptsächlich von Lemuren und verbringt deshalb einen großen Teil seines Lebens auf Bäumen. Seinen langen Schwanz setzt es als Steuerruder ein, wenn es von Wipfel zu Wipfel springt. Wenn Fossa-Weibchen zwei Jahre alt sind, "vermännlichen" sie plötzlich und entwickeln einen Penis. Außerdem erscheinen Drüsen an der Kehle, die ein stark riechendes Sekret absondern. Das färbt den Bauch der Tiere orange und lässt sie wie Männchen aussehen. Die Maskerade dauert bis zum dritten Lebensjahr, dann bilden sich Penis und Drüsen zurück und aus den Scheinmännchen werden ausgewachsene Weibchen. Was das soll, können Wissenschaftler noch nicht mit Sicherheit sagen. Klar ist: Bei den Fossa sind Weibchen häufiger als Männchen in Revierkämpfe verwickelt. Sich als Männchen auszugeben, könnte also für junge Weibchen eine Möglichkeit sein, diesen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen.

Wann genau der etwa drei Meter große Elefantenvogel ausstarb, ist nicht bekannt, wahrscheinlich schon vor dem 10. Jahrhundert. Ziemlich sicher ist: Der Mensch hat seine gesamte Art aufgegessen. Der flugunfähige Riesenvogel muss eine lohnende Beute gewesen sein. Jedes Tier wog rund 500 Kilo und jedes seiner Eier fasste neun Liter – sechsmal mehr, als in ein Straußenei passt. Heute werden nur noch Knochen und Eierschalen des Elefantenvogels auf Madagaskar gefunden. Auch Flusspferde und zahlreiche Lemurenarten verschwanden vermutlich, weil der Mensch sie jagte. Heute ist die größte Bedrohung der Tier- und Pflanzenwelt die massive Abholzung der Regenwälder. Der WWF schätzt, dass weniger als zehn Prozent der ursprünglichen Waldfläche auf Madagaskar noch erhalten sind.

Sie ist so lang wie ein Unterarm und damit die größte netzbauende Spinne der Welt. Trotzdem wurde Nephila komaci von der Wissenschaft erst 2009 entdeckt. Die ersten Exemplare fanden Forscher nicht in den Wäldern von Madagaskar, sondern in den Sammlungen verschiedener Museen. Erst 2009 gelang es einer Expedition, lebende Tiere aufzuspüren – danach trotz intensiver Suche nicht mehr. Nun fürchten die Forscher, dass die Art bereits ausgestorben sein könnte. Oder es sind nur noch Männchen übrig. Die wären deutlich schwieriger zu finden als die Weibchen ihrer Art, denn sie sind gerade einmal neun Millimeter groß.

Nirgendwo leben so viele Chamäleon-Arten wie auf Madagaskar. Darunter das Labord's Chamäleon, das unter allen vierbeinigen Wirbeltieren das mit der geringsten Lebenserwartung ist. Sieben Monate verbringt es im Ei. Sein Leben außerhalb der Kalkschale dauert hingegen gerade einmal fünf Monate. In dieser kurzen Zeit wachsen die Tiere heran, paaren sich und legen Eier. Dann sterben sie, und mit ihnen eine ganze Generation. Jedes Jahr im April, zu Beginn der Trockenzeit, geht die gesamte erwachsene Population des Labord's Chamäleons ein. Sieben Monate lang gibt es keine ausgewachsenen Tiere dieser Art – nur Föten in ihren Eiern. Erst wenn die Trockenzeit vorbei ist, schlüpft die nächste Generation der kurzlebigen Chamäleons.

Die ältesten Baobabs, die heute auf Madagaskar wachsen, waren vermutlich schon da, als die ersten Menschen auf der Insel ankamen – vor mehr als 2000 Jahren. Ihr Alter lässt sich nicht einfach an den Jahresringen im Stamm abzählen. Bei tropischem Klima entstehen im Holz keine Ringe, deshalb müssen Wissenschaftler aufwändige Radiokohlenstoff-Datierungen durchführen, wenn sie einen Baum untersuchen. Das Innere eines Baobabs besteht nicht aus Holz, sondern aus Fasern, die besonders viel Wasser speichern können. Während der langen Trockenzeit verliert der Baum seine Blätter und lebt von den Wasserreserven, die in seinem Stamm gespeichert sind. In seiner Heimat heißt der Baobab deshalb auch "Flaschenbaum". Acht Arten des Baumes gibt es weltweit, davon sechs ausschließlich auf Madagaskar. Alle gehören zu den gefährdeten Pflanzen. Probleme bereitet dem Baobab vor allem die fortschreitende Bodenerosion auf Madagaskar, die aus dem Land nach und nach eine unfruchtbare "Rote Insel" macht.

Ein erwachsener Zwergmausmaki wiegt gerade einmal 30 Gramm – er ist der kleinste und leichteste Primat der Welt. Mausmakis sind Allesfresser und ernähren sich von Früchten, Insekten und Nektar. Ist nichts zu fressen da, verfallen die Makis in einen "Torpor", einen Erstarrungszustand, in dem alle Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert werden. Während der Trockenzeit versetzen sich viele Mausmaki-Arten sogar täglich in diese Hungerstarre, um Energie zu sparen. Während des Torpors wird jedoch auch die Körpertemperatur abgesenkt. Sich wieder aufzuwärmen und schließlich aufzuwachen, würde die Makis sehr viel Energie kosten – geschicktes Timing ist deshalb wichtig. Die meisten Makis versetzen sich gegen Mitternacht in einen Torpor und lassen sich am Morgen von den Strahlen der Sonne so lange aufheizen, bis sie wieder auf "Betriebstemperatur" sind – ganz ohne eigenen Energieverbrauch.

Sieht aus wie ein Igel, ist aber keiner. Tatsächlich ist der Große Igeltenrek enger mit den Elefanten verwandt, als mit irgendeiner Spezies, die bei uns heimisch ist. Der madegassische Große Igeltenrek ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Natur manchmal auf unterschiedlichen Wegen zum gleichen Ziel kommt: Weil Tenrek und Igel in ihrer Heimat ähnliche ökologische Nischen besetzen, haben sie ähnliche Merkmale ausgebildet: eine spitze Schnauze und Krallen zum Beispiel, um unter der Erde nach Insekten zu wühlen. Die Stacheln stellt der Große Igeltenrek bei Bedrohung entweder auf, oder er rollt sich – ähnlich wie der bei uns heimische Igel – zu einer stacheligen Kugel zusammen. Bejagt und gegessen wird der Große Igeltenrek in einigen Regionen Madagaskars trotzdem. Gefährdet ist die Art dadurch aber nicht, auch dank ihrer enormen Fruchtbarkeit: Das Weibchen kann innerhalb einer Fortpflanzungsperiode bis zu drei Würfe austragen. Zur Unterfamilie der ausschließlich auf Madagaskar vorkommenden Igeltenreks gehören noch vier weitere Arten: der Große Tenrek, der Kleine Igeltenrek, der Eigentliche Streifentenrek und der Schwarzkopftenrek.

Wie "Tomatenfrösche" sehen eigentlich nur die Weibchen aus, die Männchen haben eher die Farbe einer Blutorange. Schön sind beide, weshalb viele Tiere in der Vergangenheit für Sammler gestohlen wurden. Einem Tomatenfrosch nahezukommen ist leicht, die Tiere sind nicht sehr beweglich. Die dicklichen Frösche können nicht springen und auch nur schlecht schwimmen – dafür sind ihre Beine einfach zu kurz. Die meiste Zeit verbringt der Tomatenfrosch im Boden vergraben und wartet, dass seine Beute vorbeispaziert. Bei Gefahr bläst er sich auf und verspritzt ein Hautdrüsensekret, das bei Menschen zu Hautschwellungen führen kann.

Sein langer krummer Mittelfinger erinnert an den einer Hexe. Das Aye-Aye klopft damit die Rinde eines Baumes ab, wie es bei uns ein Specht machen würde. Dann nagt es sich durch die Rinde und spießt mit seiner Kralle die Larven auf, die hinter der Borke verborgen waren. Im Deutschen heißt das Aye-Aye deshalb auch "Fingertier". Von allen bekannten Lemurenarten ist das struppige, fledermausohrige Aye-Aye wohl die mit dem sonderlichsten Aussehen. Das finden auch die Madegassen, bei ihnen heißt das Aye-Aye "Greis mit den langen Fingern".

Stand: 16.04.2019, 13:30 Uhr

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