Zwillinge

Planet Wissen 15.09.2023 02:50 Min. Verfügbar bis 15.09.2028 WDR

Forschung

Zwillinge

Von Zwillingen spricht man, wenn eine Frau mit zwei Kindern gleichzeitig schwanger ist.

Von Franziska Badenschier und Katrin Ewert

Eineiige Zwillinge: Das Erbgut ist identisch

Die eine heißt Luise, ist aufmüpfig, lebt in Wien. Die andere heißt Lotte, ist ruhig und wohnt in München. Im Ferienlager treffen sie zufällig aufeinander und stellen fest: Sie sehen gleich aus.

So beginnt das Kinderbuch "Das doppelte Lottchen" von Erich Kästner. Dann tauschen die neunjährigen Mädchen die Rollen: Luise fährt für Lotte zur Mutter und Lotte für Luise zum Vater. Die Eltern wundern sich: Meine Tochter sieht aus wie immer, aber warum verhält sie sich so anders?

Luise und Lotte sind Zwillinge. Eineiige Zwillinge, um genau zu sein. Aber sie sind getrennt voneinander aufgewachsen. Ihr Erbgut ist gleich, ihr Verhalten nicht immer. So wird schon in dem Kinderbuch von 1949 deutlich, was Zwillinge so besonders macht. Sie liefern Antworten auf die Frage: Wie sehr prägt das Erbgut einen Menschen, wie sehr die Umwelt?

Von Zwillingen spricht man, wenn eine Frau mit zwei Kindern gleichzeitig schwanger ist. Eineiige Zwillinge entstehen aus einer befruchteten Eizelle, die sich dann in zwei Hälften aufteilt. Eineiige Zwillinge tragen dasselbe Erbgut in ihren Zellen – und sehen sich daher zum Verwechseln ähnlich. Warum sich eine bereits befruchtete Eizelle teilt und zu eineiigen Zwillingen entwickelt, ist noch unklar.

Zweieiige Zwillinge: Zweimal ein Kind gezeugt

Zweieiige Zwillinge entstehen aus zwei Eizellen, die jeweils von einem Spermium befruchtet werden. Im Zyklus einer Frau kommt es vor, dass zwei Eizellen heranreifen und vom Eierstock in den Eileiter abgegeben werden. Beide Eisprünge geschehen innerhalb von 24 Stunden. Im Eileiter sind die Eizellen dann zwölf bis 18 Stunden befruchtungsfähig.

Zudem können Spermien nach dem Geschlechtsverkehr bis zu fünf Tage überleben. Solange ist die Frau empfängnisbereit. Genug Zeit, um zweimal ein Kind zu zeugen. Beide Male werden die Karten neu gemischt. Die eine befruchtete Eizelle hat somit eine andere Erbgutausstattung als die andere.

Zweieiige Zwillinge sind sich genetisch weder fremder noch ähnlicher als zwei Geschwister, die im Abstand einiger Jahre gezeugt wurden. Zwei Mädchen, zwei Jungen oder ein Mädchen und ein Junge – all diese Kombinationen sind möglich.

Ein Mädchen und ein Junge mit roten Haaren und grünem Oberteil stehen beieinander

Zweieiige Zwillinge: Bruder und Schwester

Reifere Frauen gebären öfter zweieiige Zwillinge

Stammbaum-Analysen haben ergeben: Frauen, die einen zweieiigen Zwillingspartner haben, gebären etwas häufiger Zwillinge als andere Frauen. Und Frauen, die eine eineiige Zwillingsschwester haben, bekommen eher Zwillingstöchter.

Der wichtigste Faktor für zweieiige Zwillinge sei aber das Alter der Mutter, heißt es in einer medizinischen Publikation in der Online-Fachzeitschrift "PLoS One". "Die Anzahl der Zwillingsschwangerschaften steigt kontinuierlich bis zum Alter von 38 Jahren und sinkt dann wieder." Neuere Studien gehen von einem Wendepunkt bei 35 Jahren aus.

Dafür sorge ein Hormon, das mit den Jahren häufiger ausgeschüttet werde: das Follikel stimulierende Hormon, kurz FSH. Es lässt die Follikel heranreifen, die Eibläschen im Eierstock. Mehr FSH gleich mehr doppelte Eisprünge. Manche Frauen versuchen daher ihrem Kinderwunsch mit Hormonspritzen auf die Sprünge zu helfen.

Mutter mit zwei eineiigen Zwillingstöchtern in einer Küche

Veranlagung: Zwillingsschwestern bekommen mehr Zwillingstöchter

Die Anzahl der Zwillingsgeburten steigt

Bei einer künstlichen Befruchtung via In-vitro-Fertilisation werden hingegen mehrere Eizellen im Reagenzglas befruchtet. Die Mediziner übertragen zwei der entstandenen Embryonen in die Gebärmutter der Frau, in der Hoffnung, dass zumindest ein Embryo sich einnistet und zu einem Kind heranwächst. Immer wieder nisten sich beide Embryonen ein.

Die künstliche Befruchtung und das steigende Alter der Mütter in Deutschland: Beides wirkt sich auf die Geburtenstatistik aus. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts war 2017 jedes 26. Neugeborene ein Mehrlingskind, 1991 war es nur jedes 42. Baby.

Zwillingsforschung

Zahlreiche Zwillingspaare beteiligen sich an wissenschaftlichen Studien. Der Verhaltensgenetiker Rainer Riemann von der Universität Bielefeld war an fast allen größeren psychologischen Zwillingsstudien im Nachkriegsdeutschland beteiligt.

Ein Grundprinzip der Zwillingsforschung ist Riemann zufolge: "Wenn man Zwillinge studiert, die gemeinsam aufgewachsen sind, dann teilen sie sich eine Umgebung: das Elternhaus, die Wohngegend, die finanzielle Situation und so weiter. Wenn nun in einem bestimmten Merkmal eineiige Zwillinge sich ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge, dann wissen wir: Dieses Merkmal ist erblich – weil die eineiigen Zwillinge eben genetisch identisch sind."

Zwei eineiige Zwillingsjungen im Alter von vier Jahren pusten Seifenblasen.

Eineiige Zwillinge, die zusammen aufwachsen

Was bestimmt, wer wir sind?

Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt noch mehr Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. Zum Beispiel: Welche Erfahrungen sammelt der eine Zwilling im Laufe seines Lebens, die der andere Zwilling nicht hat? Wie sehr werden die Ergebnisse verzerrt, wenn Zwillinge immer nur selbst Fragebögen ausfüllen, statt von anderen eingeschätzt zu werden? Wie verändern sich die Gemeinsamkeiten mit der Zeit?

Um Fragen wie diese zu untersuchen, führten Riemann und seine Kollegen eine Studie an der Universität Bielefeld durch: 300 Zwillingspaare wurden jeweils einen Tag lang befragt, beobachtet, getestet. "Es ging zu wie heute bei einem Assessment-Center: Unter anderem sollten sich die Befragten vor laufender Kamera vorstellen, ihre Intelligenz wurde gemessen, ihre Kreativität getestet. Und jeder tat das allein – ohne den Zwilling." Vier Beobachter schauten sich die Videos jedes Einzelnen bei einer Aufgabe an und schätzten so die Persönlichkeit ein.

Das Ergebnis: Die Persönlichkeit der Zwillinge war zu 41 Prozent genetisch bedingt. Die Umgebung, in der die Zwillinge lebten, beeinflusste etwa ein Viertel der Persönlichkeit. Fast ein Drittel ließ sich zurückführen auf den unterschiedlichen Freundeskreis, die verschiedenen Jobs oder die persönlichen Erlebnisse, die sogenannte spezifische Umwelt.

Ultraschallbild von zwei Ungeborenen.

Ultraschallbild: zwei Ungeborene im Bauch der Mutter

Die Umgebung beeinflusst die Persönlichkeit, aber nicht nur

"Diese Ergebnisse deckten sich mit früheren Studien", sagt Riemann. "Die geteilte Umwelt spielt insgesamt eine so kleine Rolle, dass das Verhalten der Eltern die Persönlichkeit ihrer Zwillinge nicht so sehr prägt wie lange geglaubt."

In einer weiteren Studie untersuchte Riemann mit Kollegen, wie sich die Persönlichkeit von Zwillingen über 15 Jahre hinweg entwickelt hat: Die Umwelteinflüsse häuften sich nicht an, um dann fortwährend auf die Merkmale einzuwirken. Sie führten jedoch dazu, dass sich die Persönlichkeit der einzelnen Zwillinge immer wieder veränderte.

Riemann führte noch eine Studie durch, die sich auf soziale Einstellungen und politische Orientierung fokussiert: die Jena Twin Study of Social Attitudes (JeTTSA). Hier zeigte sich: Auch Einstellungen wie Konservatismus werden durch das Erbgut beeinflusst.

Buchdeckel von Erich Kästners Kinderbuch "Das doppelte Lottchen" von 1949.

Erich Kästners Werk "Das doppelte Lottchen"

Epigenetik in der Zwillingsforschung

"Ich schaue mir nicht bloß einzelne Gene an, sondern das gesamte Erbgut", sagt Verhaltensgenetiker Riemann. Andere Wissenschaftler suchen hingegen nach Details: Sie interessieren sich dafür, wann warum welche Gene aktiv werden oder stummgeschaltet werden – das Forschungsfeld.

Als spanische Forscher eineiige – also genetisch identische – Zwillingspaare zwischen drei und 74 Jahren untersuchten, zeigte sich eindeutig: Die jüngsten Zwillinge unterschieden sich in ihrem so genannten epigenetischen Code kaum – die ältesten Zwillinge dagegen umso mehr.

Im Laufe des Lebens machen Zwillinge unterschiedliche Dinge durch, entwickeln andere Gewohnheiten oder befinden sich in anderen Lebensumständen – und so entwickeln sich auch ihre epigenetischen Codes mitunter in verschiedene Richtungen.

Muss man also künftig die Frage "Sind die Gene schuld oder die Umwelt?" um den Faktor Epigenetik ergänzen? Nein, sagt Riemann. "Ich sehe epigenetische Markierungen oder Veränderungen als einen Umwelteffekt an. Und wenn sie das Erbgut in den Keimzellen betreffen und so an die Nachkommen weitergegeben werden, dann werden sie zum genetischen Effekt, der eine Familienähnlichkeit beeinflusst."

Zwei ältere eineiige Zwillingsfrauen mit weißen Haaren und roter Jacke.

Eineiige Zwillinge im Alter: mehr Unterschiede im Epigenom

Genveränderungen im Weltraum

Wie stark uns Umweltfaktoren verändern können, zeigte auch eine NASA-Zwillingsstudie. Während Astronaut Scott Kelly 2015 für ein Jahr zur Internationalen Raumstation ISS flog, blieb sein Zwillingsbruder Marc am Boden. Nach Scotts Rückkehr verglichen die Forscher die beiden Brüder und konnten genau feststellen, wie der Weltraum den menschlichen Körper beeinflusst.

Wer sich länger im Kosmos aufhält, entwickelt zum Beispiel eine Sehbehinderung. Der Grund: Die Schwerelosigkeit vergrößert die Blutgefäße. Die fehlende Schwerkraft verursacht weitere Probleme: Knochen- und Muskelmasse schwinden, das Immunsystem wird schwächer. Kosmische Strahlung aus dem Weltall verändert außerdem die Bakterien im Darm. Zurück auf der Erde bessern sich die meisten entstandenen Beschwerden wieder.

Die spannendste Erkenntnis der NASA-Studie: Die Gene der Zwillingsbrüder unterscheiden sich stärker als vor dem Projekt. Rund sieben Prozent der Gene von ISS-Astronaut Scott hatten sich durch die Raumfahrt verändert. Aber: Diese Veränderungen lassen sich nur im Labor erkennen. Sowohl das Aussehen, als auch die Charakterzüge teilen Scott und Marc weiterhin wie vor dem Experiment.

Weltweit forschen Wissenschaftler weiter an Daten von Zwillingen. In Deutschland läuft seit 2014 ein besonders aufwändiges Projekt namens "Twin Life" mit 4000 Zwillingspaaren. Die Forscher der Universität Bielefeld und der Universität des Saarlandes beobachten und befragen die Geschwister über zehn Jahre lang und wollen so einen ganzen Pool an Daten sammeln.

Ihre Vermutung: Weder das Erbgut, noch die Umwelt-Komponente sind alleine für die Charakteristika der Zwillinge verantwortlich. Es sei vielmehr ein komplexes Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung und äußeren Einflüssen.

(Erstveröffentlichung: 2013. Letzte Aktualisierung: 03.09.2019)

Quelle: WDR

Darstellung: