Schweiz, Kanton Graubünden. Der Tschiervagletscher bei Pontresina/Oberengadin mit den Bergen Piz Bernina, Scerscen und Roseg.

Lebensraum Hochgebirge

Gebirgspflanzen – Experten in rauen Höhen

"Je höher, desto kälter" heißt die Formel für das Leben im Hochgebirge. Das erschwert das Überleben für die Pflanzen dieser Region. Doch die Natur ist erfinderisch und die Anpassungsstrategien der Pflanzen sind vielseitig.

Von Andrea Wengel

Überleben mit Frostschutz

Das Stängellose Leimkraut ist ein Paradebeispiel für Tieftemperaturspezialisten. Diese Pflanze bildet einen dichten Polsterwuchs am Berg, den während des Sommers unzählige zartrosa Blüten zieren.

Im Winter sind Blüten und Blätter abgestorben. Zurück bleibt ein unansehnliches grau-braunes Polster, von dem man sich kaum vorstellen kann, dass es einmal wieder in voller Blüte und Farbenpracht erstrahlen wird. Doch zwischen diesen abgestorbenen Blättern verborgen liegen die winzigen grünen Vegetationskegel, aus denen das Stängellose Leimkraut im nächsten Sommer wieder austreiben wird.

Dieses zentrale Gewebe härtet sich im Winter auf extrem tiefe Temperaturen ab; minus 80 Grad Celsius ist kein Problem für diesen Hochgebirgsexperten. In einem Kälteexperiment überstanden die Wurzelbereiche und Vegetationskegel im Zentrum der Pflanze sogar ein kurzfristiges Eintauchen in flüssigen Stickstoff mit minus 196 Grad Celsius unbeschadet.

Strategien gegen die Kälte

Um dem Frost zu trotzen, müssen die Pflanzen im Hochgebirge dafür sorgen, dass in ihren Zellen kein Wasser gefriert, da es sonst zu Frostschäden kommt und die Struktur der Zellen zerstört werden würde. Eine Strategie besteht darin, das Wasser aus der Zelle herauszutransportieren und in die Zellzwischenräume abzugeben. Wenn das Wasser hier, im sogenannten extrazellulären Raum, gefriert, kann das entstehende Eis keine lebenswichtigen Zellstrukturen schädigen.

Eine weitere Strategie ist, so etwas wie einen biologischen Frostschutz in die Zellen einzulagern, wie Zucker und Alkohole, und damit den Gefrierpunkt sehr stark zu senken. Im Frühjahr, wenn die warmen Sonnenstrahlen den Schnee schmelzen lassen, taut auch die Pflanze auf und erwacht regelrecht aus ihrem Winterschlaf.

Die spezialisierten Gewächse, über den Winter tieffrostabgehärtet, müssen nun wieder "enthärten", damit sie für den kurzen Sommer ihren Stoffwechsel in Schwung bringen und erneut wachsen können.

In den äquatornahen Hochgebirgen muss sich die Vegetation nicht einem Jahreszeitenklima, sondern einem Tageszeitenklima stellen. In Gebieten wie zum Beispiel den Anden oder den tropisch-alpinen Regionen Ostafrikas, wie dem Ruwenzori-Gebirge, ist jeden Tag Sommer und jede Nacht Winter. Trotzdem gedeihen hier die Schopfbäume prächtig.

Während der sommerlich warmen Temperaturen am Tag hat die Pflanze ihre behaarten Blätter weit geöffnet und betreibt Photosynthese. Nachts schließen sich die Blätter, ummanteln die empfindliche Sprossspitze und schützen sie so vor dem Nachtfrost. Zusätzlich sind die Blattachseln mit einer glykolähnlichen Flüssigkeit gefüllt, die als Frostschutzmittel dient.

Schopfbäume in den Anden.

Schopfbäume in den Anden

Sonne, Wind und Wetter

Wer im Gebirge hoch hinaus will, bekommt oft starke Winde und Stürme zu spüren. Um diesem luftigen Angriff nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, ducken sich die Pflanzen regelrecht an den Berg: Kleinwüchsigkeit vermindert die Angriffsfläche.

Auch rücken die Pflänzchen eng zusammen – die meisten Hochgebirgspflanzen wie das Stängellose Leimkraut oder der Alpen-Mannsschild bilden einen dichten Polsterwuchs. Innerhalb dieser Bewuchs-Stellen herrscht ein eigenes Mikroklima, das in der Regel um mehrere Grad wärmer ist als die Außentemperatur.

Diese Polster verhindern zudem, dass der Wind die erwärmte Luft zwischen den Pflanzen einfach wegblasen kann, wodurch das Mikroklima stabil bleibt.

Auffallend ist, dass viele dieser höchsten Gebirgspflanzen sehr bunt und reich an Blüten sind. Der attraktive Alpen-Mannsschild beispielsweise, der auf die höchsten Alpengipfel spezialisiert ist, bedeckt mit seinen zahlreichen rosa Blüten vollständig das grüne Polster des Laubs.

Die Blüten filtern und reflektieren die ultraviolette Strahlung, die mit steigender Höhe an Intensität gewinnt und die empfindlichen regenerativen Gewebe der grünen Blattorgane schädigt, indem sie Mutationen erzeugt. Solche Pflanzen haben gewissermaßen ihre eigene Sonnenbrille entwickelt. Ohne solche Spezialisierungen wäre ein Leben der Pflanzen in diesen unwirtlichen Höhen mit ihren Extremen nicht vorstellbar.

Älpenmannsschild, Androsace alpina

Der Alpen-Mannsschild

Quelle: SWR | Stand: 14.04.2020, 17:20 Uhr

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