Konrad Lorenz sitzt am Wasserrand und dreht sich in Richtung Kamera, im Hintergrund schwimmt eine Ente und ein Schwan

Entenvögel

Verhaltensforschung an Graugänsen

Der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz (1903-1989) war studierter Mediziner und Biologe und wurde als "Gänsevater" berühmt. Unvergessen ist die Schar Junggänse, die ihm auf Schritt und Tritt folgte.

Von Harald Brenner

Schlüsselreiz löst Verhaltensweisen aus

Zusammen mit Niklaas Tinbergen gilt Konrad Lorenz als einer der Mitbegründer der Ethologie, der Vergleichenden Verhaltensforschung. Seine bevorzugten Untersuchungsobjekte waren Graugänse.

Eine der grundlegenden Fragen, die sich Lorenz stellte: Woran erkennt man eine Instinkthandlung – also ein Verhalten, das nicht auf Erfahrung basiert, sondern durch einen Schlüsselreiz ausgelöst wird?

Mithilfe seiner genauen Beobachtungen kam er der Antwort näher. So entdeckte er, dass brütende Graugänse ein aus dem Nest gefallenes Ei problemlos ins Nest zurückbugsieren können, ohne dies vorher geübt zu haben.

Dazu schieben die Tiere ihre Schnabelunterseite über das Ei und rollen es ins Nest zurück. Sie balancieren das Ei so geschickt, dass es nicht zur Seite wegrollt. Nimmt man ihnen das Ei weg, machen sie die Rollbewegung trotzdem weiter, ohne dass es dafür eines Reizes von außen bedarf.

Dieses schematische Verhalten des Rollens ist angeboren, Lorenz nannte es Erbkoordination. Das Balancieren des Eis ist zwar ebenfalls angeboren, hört aber sofort auf, wenn man das Ei entfernt. Es sind Orientierungsbewegungen, die einen auslösenden Reiz brauchen.

Prägung kurz nach dem Schlüpfen

Lorenz entdeckte noch einen weiteren grundlegenden Mechanismus: die Prägung. Kurz nach dem Schlüpfen, in der sogenannten sensiblen Phase, werden Junggänse auf das geprägt, was sie zuerst erblickt haben. In der Regel sind das die Eltern. Biologisch macht das Sinn, weil die Kleinen sehr schnell das Nest verlassen und ihren Eltern folgen müssen, um Schutz und Nahrung zu bekommen.

Der Prägungsvorgang ist so starr und unumkehrbar, dass die Gänseküken allem nachlaufen, was sie nach dem Schlüpfen zuerst gesehen haben. Das kann ein Mensch sein, aber ebenso jede beliebige Attrappe oder ein Fußball. Menschen, genauer die menschliche Gestalt, erkennen Küken zwar sofort, aber unterscheiden können die Tiere sie erst nach etwa drei bis zehn Tagen.

Es gibt auch noch spätere sensible Phasen und Prägungen, die eine Rolle beim Balzen oder beim Fliegen in einem Vogelschwarm spielen.

Professor Dr. Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen am Ess-See bei Starnberg in Oberbayern

Konrad Lorenz mit einer Schar von jungen Graugänsen

Hohe soziale Intelligenz

Wissenschaftler der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle im oberösterreichischen Grünau haben herausgefunden, dass Graugänse über eine außerordentlich hoch entwickelte soziale Intelligenz verfügen.

Genaue Beobachtungen haben gezeigt, dass das Sozialverhalten der Gänse sehr komplex ist. Sie kennen die familiären Verflechtungen innerhalb der Kolonie, wissen, wer mit wem verbandelt ist, wer mit wem gut auskommt.

In einer Kolonie von etwa 100 Gänsen kennen sich alle. In einem großen Schwarm von 1000 Tieren klappt das nicht mehr, aber ihre nächsten Verwandten kennt die Gans ganz genau.

Eine Gruppe Wildgänse (Blässgänse, Saat-und Graugänse) fliegt über einen Rheinarm bei Bislich.

Hier wird es langsam schwierig mit der Wiedererkennung

Vielfältige Beziehungen

Beziehungen zwischen Graugänsen sind ziemlich vielfältig. Es gibt Heteropaare, Dreiecksbeziehungen und Homopaare. Bei letzteren handelt es sich eher um homosoziale denn um homosexuelle Beziehungen.

Ganterpaare sind gar nicht so selten. Weibchenpaare dagegen gibt es gar nicht. Das liegt wohl daran, dass die Ganter kräftiger sind und die Weibchen den Partner nach ihrem Schutzbedürfnis wählen. Homobeziehungen findet man sogar unter Geschwistern, während Heteropaarungen bei Geschwistern extrem selten vorkommen.

Sogar flotte Dreiecksbeziehungen gibt es. Das kann zum Beispiel ein Heteropaar sein, zu dem sich ein junges, unverpaartes Weibchen drängelt. Die beiden Weibchen tolerieren sich meist, mögen sich aber nicht besonders.

Es gibt auch Homopaare, an die sich ein Weibchen anhängt. Der Kern der Beziehung bleibt aber die Homopaarung. Auch unter Geschwistern gibt es eine Besonderheit: Schwestern bleiben in der Regel ein Leben lang nah beieinander. Brüder dagegen selten und Bruder und Schwester so gut wie nie.

Graugänse

Die meisten Graugänse leben in Paarbeziehungen

Herzschlag und soziale Interaktionen

Überraschendes fanden die Grünauer Wissenschaftler heraus, als sie mithilfe der Telemetrie den Herzschlag der Graugänse aufzeichneten, also über Funk. Sie untersuchten, wie dieser Herzschlag von sozialen Interaktionen beeinflusst wird.

Sind der Partner oder das Kind an Interaktionen beteiligt, geht der Herzschlag kräftig in die Höhe: von 100 auf etwa 400 Schläge pro Minute. Das ist ein bisschen wie bei einer Fußball-Weltmeisterschaft, wenn die Fans mit ihrer Mannschaft mitfiebern – der Puls steigt.

Graugänse sind da nicht anders: Wenn das Weibchen zum Beispiel am Nest hockt und andere Gänse in der Umgebung landen, passiert gar nichts – auch bei Kontaktschreien nicht. Wenn jedoch der Partner kommt, kochen die Emotionen hoch und die Herzfrequenz steigt auf 400 bis 500 Schläge.

Quelle: SWR | Stand: 25.03.2020, 16:45 Uhr

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