Die Suche nach Blindgängern

Planet Wissen 31.01.2022 03:23 Min. Verfügbar bis 18.10.2024 WDR Von Ulrich Grünewald

Sprengstoff

Bombenentschärfung

Eine falsche Bewegung und mehrere Kilogramm Sprengstoff explodieren: Der Job des Kampfmittelbeseitigers ist nichts für schwache Nerven. Mit Rohrzange und Miniraketen entschärfen die Spezialisten Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg.

Von Ulrich Grünewald

"Bitte verlassen Sie Ihre Wohnung!"

Fast jeden Tag muss irgendwo in Nordrhein-Westfalen (NRW) ein Gebiet wegen eines Bombenfundes evakuiert werden. Das bedeutet: Niemand darf sich im Sperrbereich aufhalten. Je nach Größe der Bombe kann dieser Sperrbereich einen Radius von 50 Metern bis einem Kilometer haben.

In einer Stadt wie Köln sind dann schnell mehrere Tausend Menschen betroffen. Während sie den Gefahrenbereich verlassen, machen sich die Kampfmittelbeseitiger auf den Weg zur Bombe.

Meistens werden die Blindgänger bei Bauarbeiten entdeckt, jedes Jahr sind es mehrere hundert. 2018 waren es sogar fast 3000. Mehrere Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs verwundert es im ersten Moment, dass immer noch so viele Blindgänger in der Erde stecken.

Aber es wird verständlich, wenn man sich die unglaubliche Masse an Bomben klarmacht, die auf NRW abgeworfen wurden: 700.000 Tonnen. Und ein Großteil explodierte eben nicht direkt und wurde auch später nicht weggeräumt, sondern geriet in Vergessenheit und schlummert bis heute als explosive Gefahr in der Erde.

Wo muss evakuiert werden?

Planet Wissen 31.01.2022 04:30 Min. UT Verfügbar bis 18.10.2024 WDR Von Ulrich Grünewald

Mit Fingerspitzengefühl den Zünder ertasten

Vereinfacht gesagt besteht eine typische Fliegerbombe aus zwei Teilen: aus einem kleinen Zünder, etwa in der Größe einer Seifenblasenflasche, und dem mit dem Sprengstoff TNT gefüllten Bombenkörper. Getrennt sind beide Teile relativ ungefährlich. Zur tödlichen Gefahr werden sie erst in der Verbindung, also wenn der Zünder den Sprengstoff zündet. Das Ziel der Entschärfung ist es daher, beide Teile voneinander zu trennen.

Damit der Zünder dabei nicht auslöst, muss der Kampfmittelbeseitiger als erstes wissen, um welche Art von Zünder es sich handelt. Und da die Bombe meistens irgendwo im Dreck liegt, schlecht zugänglich und halb verrostet ist, ertastet er den Zünder meistens. Es ist also Fingerspitzengefühl gefragt.

Zwei Arten von Zünder werden unterschieden: Aufschlagzünder und Langzeitzünder. Aufschlagzünder besitzen einen beweglichen Schlagbolzen, der von einer Feder gehalten wird. Wenn die Bombe aufschlägt, saust der Schlagbolzen nach vorne und schlägt auf ein Zündplättchen, so ähnlich wie bei Spielzeugpistolen. Dieses Zündplättchen löst eine Reihe an Verstärkerladungen aus, die schließlich das TNT der Bombe zünden.

Häufig sind die Fliegerbomben jedoch nicht senkrecht nach unten gefallen, sondern leicht seitlich. Wenn sie dann schräg auf die Erde getroffen sind, hat der Schlagbolzen nicht den Impuls in Richtung Zündplättchen bekommen und keine Kettenreaktion ausgelöst. Die Bombe wurde zum Blindgänger.

Wenn dieser Blindgänger heute bewegt wird und vielleicht sogar auf die Spitze fällt, dann reichen bereits wenige Zentimeter Fallhöhe und der Schlagbolzen nimmt seinen todbringenden Weg.

Querschnitt durch zwei Bombenzünder: oben ein britischer Langzeitzünder, unten ein amerikanischer Aufschlagzünder

Ist es ein Aufschlagzünder oder ein Langzeitzünder?

Bomben mit Langzeitzünder explodieren oft spontan

Noch gefährlicher sind die Langzeitzünder. Bei ihnen ist der Schlagbolzen durch eine Feder gespannt und wird nur durch einen Sicherungsring aus dem Kunststoff Zelluloid gehalten. Davor ist ein kleiner Glasbehälter, der mit der ätzenden Flüssigkeit Aceton gefüllt ist.

Beim Abwurf der Bombe wird dieser Glasbehälter zerstört und das Aceton beginnt den Sicherungsring aufzulösen. Je nach Dicke des Rings kann es dann Stunden oder Tage dauern, bis der Schlagbolzen frei geätzt ist, auf das Zündplättchen saust und die Bombe auslöst.

Wenn die Bombe jedoch schräg aufschlägt oder mit der Spitze nach oben zu liegen kommt, dann erreicht nur ein Teil des Acteons den Sicherungsring. Es kann dann mehrere Jahrzehnte dauern, bis dieser nachgibt. Und das passiert dann ganz spontan, ohne Erschütterung oder fremdes Zutun. Rund einmal im Jahr kommt es in Deutschland zu einer solchen Selbstdetonation.

Da von außen der Zustand des Sicherungsrings nicht erkennbar ist, sind Bomben mit Langzeitzünder für die Kampfmittelbeseitiger besonders gefährlich. Schon durch eine kleine Bewegung der Bombe kann ein fast aufgelöster Sicherungsring seinen letzten Halt verlieren und zur Explosion führen.

Tückische Spätwirkung: Langzeitzünder

Planet Wissen 31.01.2022 03:35 Min. UT Verfügbar bis 18.10.2024 WDR Von Jakob Kneser

Jede Entschärfung ist anders

Sobald klar ist, um welchen Zünder es sich genau handelt, kann sich der Kampfmittelbeseitiger Gedanken über die Entschärfung machen. Ist es ein einfacherer Aufschlagzünder ohne zusätzliche Sicherungen, kann er den Zünder häufig einfach mit einer Rohrzange herausdrehen.

Es gibt aber auch Aufschlagzünder, die mit zusätzlicher Mechanik so präpariert sind, dass der Schlagbolzen auch auslöst, wenn der Zünder herausgedreht wird. Dann kommt zum Beispiel das Ausdrehimpulsgerät zum Einsatz, das die Kampfmittelbeseitiger auch "Raketenklemme" nennen. Das flache rechteckige Gestell wird mit Schrauben an dem Zünder festgeklemmt.

An zwei gegenüberliegenden Seiten ist je ein Rohr mit einer Treibladung angebracht, so ähnlich wie eine Silvesterrakete – daher der Name Raketenklemme. Der Kampfmittelbeseitiger zündet sie aus sicherer Entfernung. Die Raketenklemme dreht den Zünder dann so schnell aus der Bombe, dass der Schlagbolzen ins Leere schlägt.

Bei Langzeitzündern setzen die Kampfmittelbeseitiger gerne auf das Wasserstrahlschneidgerät. Mit hohem Druck wird durch eine kleine Düse Wasser gedrückt. Der Strahl ist dadurch so hart, dass er sogar Stahl zerschneiden kann. Das Gerät wird vor dem Zünder platziert und ferngesteuert. Die Erschütterungen sind dabei relativ gering, so dass der Sicherungsring kaum zusätzlich belastet wird und der Zünder nicht auslöst.

Manchmal hilft aber nur neuer Sprengstoff gegen alten Sprengstoff. Die Bombe wird mit modernem Plastiksprengstoff kontrolliert zur Explosion gebracht. Auch das nennen die Kampfmittelbeseitiger Entschärfung.

Um die Wucht der Explosion zu dämpfen, wird die Bombe dann mit Stroh, Sand oder Wasser umschlossen und dadurch gedämmt. So sollen die Schäden minimiert werden. Doch so gut “kontrollierte Sprengung“ klingt: Das einzige, was die Kampfmittelbeseitiger dabei wirklich kontrollieren, ist die Uhrzeit.

Eine Granate konnte nicht entschärft werden. Sie wird kontrolliert in die Luft gejagt.

Manchmal muss kontrolliert gesprengt werden

Kein Job für Draufgänger

“Mir ist sehr bewusst, dass das jedes Mal meine letzte Bombe sein kann. Und egal, ob ich eine 50-Kilo-Bombe entschärfe oder eine 1000-Kilo-Bombe: Wenn‘s in die Hose geht, ist das Ergebnis für mich immer dasselbe“, sagt Karl-Heinz Clemens. Er ist ein erfahrener Kampfmittelbeseitiger und ein ruhiger besonnener Mensch – trotzdem merkt man ihm die Konzentration während einer Entschärfung an.

Und es fällt auf, dass er keinen speziellen Schutzanzug trägt. Der Grund ist so einfach wie erschreckend: Wenn eine Bombe hochgeht, während er an ihr arbeitet, kann ihn nichts schützen. Die explosive Kraft ist einfach zu groß.

Was Clemens und seine Kollegen am meisten stört, sind Menschen, die sich weigern, den Sperrbereich zu verlassen. Sie bringen den Zeitplan durcheinander und sorgen für zusätzliche Gefahr. Denn mit der Entschärfung darf erst begonnen werden, wenn wirklich alle Unbeteiligten den Sperrbereich verlassen haben.

Wenn aber Menschen ihre Wohnung nicht verlassen und erst mühsam von der Polizei eingesammelt werden müssen, dann muss der Kampfmittelbeseitiger untätig warten. Schnell verschiebt sich dann der Beginn der Entschärfung um mehrere Stunden und liegt plötzlich mitten in der Nacht. Der Kampfmittelbeseitiger hat dann nicht nur mit dem Blindgänger zu kämpfen, sondern zusätzlich mit Dunkelheit und Müdigkeit.

Oranienburgs gefährliches Erbe

Planet Wissen 31.01.2022 04:03 Min. UT Verfügbar bis 18.10.2024 WDR Von Kerstin Gründer

(Erstveröffentlichung 2019. Letzte Aktualisierung 08.10.2019)

Quelle: WDR

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