Ein Verschickungskind erzählt

Planet Wissen 07.02.2024 04:06 Min. UT Verfügbar bis 07.10.2027 SWR

Nachkriegszeit

Was geschah mit den Verschickungskindern?

Millionen Kinder wurden nach dem Krieg zur Kur geschickt – und dort vielfach systematisch gequält, manche sogar für Medikamententests missbraucht. Viele Betroffene wurden fürs Leben geprägt und wünschen sich jetzt eine Aufarbeitung der Geschehnisse.

Von Martina Janning

Quälereien statt Erholung in Kinderkurheimen

Sie mussten ihr Erbrochenes essen, wurden mit Toilettenverbot bestraft und bekamen Schläge mit Stöcken: Hunderttausende Kinder wurden im Nachkriegsdeutschland zum Aufpäppeln in Kur geschickt. Viele von ihnen erlebten dort systematische Quälereien und Misshandlungen. Das geschah teilweise bis in die 1990er-Jahre hinein.

Statt Spiel und Betreuung wurden die Kinder vielerorts ruhiggestellt, bekamen Tabletten oder Spritzen. Das geht aus den Schilderungen ehemaliger Verschickungskinder hervor, von denen der "Initiative Verschickungskinder" mittlerweile mehrere Tausend vorliegen.

Medikamentenversuche an Kurkindern

Planet Wissen 07.02.2024 05:03 Min. UT Verfügbar bis 07.10.2027 SWR

Die Pharmazeutin Sylvia Wagner kennt solche Schilderungen. Sie recherchiert seit Jahren zum Medikamenteneinsatz bei Kindern und seit einiger Zeit verstärkt zu den mehrwöchigen Erholungskuren.

"Dort sind Kinder mit Medikamenten sediert worden", sagt sie. "Vor allem, wenn sie unruhig waren, Heimweh hatten oder einfach, damit sie schlafen." Es sei dabei nicht um das Wohl der Kinder gegangen, sondern um den reibungslosen Ablauf in den Einrichtungen.

Medikamentenversuche an Kurkindern

Sogar Medikamentenversuche an den Kurkindern gab es in manchen Erholungsheimen, haben Recherchen von Report Mainz ergeben. Demnach bekamen Kinder in der katholischen Kinderheilstätte Maria Grünewald in der Eifel das gefährliche Schlafmittel Contergan zu Testzwecken. Die jüngsten Kinder waren gerade mal zwei Jahre alt.

Contergandose und Tabletten.

Heimliche Contergantests an Kurkindern

Auch in anderen Kurheimen wurden die Kinder für Medikamentenstudien missbraucht. Die Eltern wussten nichts von den Arzneimitteltests.

Das gesamte Ausmaß der Medikamentenversuche sei bislang unbekannt, sagt Anja Röhl von der "Initiative Verschickungskinder". "Die Aufarbeitung der Medikamentenversuche steht erst ganz am Anfang." Röhl hofft auf weitere Forschungsarbeiten, die Aufschluss geben.

Die Eltern handelten in gutem Glauben

Bis in die 1990er-Jahre hinein gab es rund 1000 Kinderkurheime in der Bundesrepublik Deutschland. Die meisten dieser sogenannten Verschickungsheime lagen in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern.

Betrieben wurden sie von allen großen Wohlfahrtsverbänden, darunter Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt (AWO), und zu über 40 Prozent von Privatmenschen.

Kinder beim Essen.

Kinder wurden zum Essen gezwungen

In der DDR gab es ebenfalls Kinderkuren. Doch über systematische Demütigungen und Misshandlungen in DDR-Kinderkuren ist bislang nichts bekannt.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Kinderkuren regelrecht beworben. Schulen, Gesundheitsämter, Krankenversicherungen und Ärzte suggerierten den Eltern, dass sie ihrem Kind damit etwas Gutes tun. In diesem Glauben schickten Eltern ihre Kinder in Erholungskur – und bekamen nach sechs Wochen vielfach verängstigte Nervenbündel zurück.

Wenn die Kinder zu Hause ihre schlimmen Erlebnisse erzählten, glaubten Eltern ihnen oft nicht. Denn in den Briefen aus der Kur nach Hause hatte alles sehr schön geklungen. Der Grund: Die Erzieherinnen diktierten den Kindern die Briefe oder drohten ihnen mit Strafen, falls sie etwas Negatives schrieben.

Warum wurden die Kurkinder gequält?

Das Erziehungspersonal in den Verschickungsheimen besaß meistens keine pädagogische Ausbildung. Anja Röhl von der "Initiative Verschickungskinder" sieht bei den "Tanten" genannten Erzieherinnen Biografien, die durch den Nationalsozialismus geprägt waren.

"Da finden wir viele Nachinszenierungen", berichtet Röhl. Zum Beispiel: den Kindern Nummern auf ihre Unterarme schreiben, nach der Ankunft die Haare scheren, Antreten auf einem Appellplatz. Das TV-Magazin "Report Mainz" ist bei seinen Recherchen auf mehrere Verschickungsheime gestoßen, die von altgedienten Nazis geleitet wurden.

Grafik: Eine Gruppe von Kindern und ein Junge trägt ein Schild um den Hals.

Zurschau-Stellung als Bestrafung

In den Verschickungsheimen herrschten durch die "strafende" beziehungsweise "schwarze" Pädagogik geprägte Vorstellungen. Kinder galten als von Natur aus schlecht und mussten gebändigt werden. Diese strafende Pädagogik entstand im 19. Jahrhundert. Einem strafenden Vater stand hier noch eine liebende und verzeihende Mutter gegenüber. Der Nationalsozialismus änderte das.

Im Dritten Reich war die ideale Mutter kalt und distanziert. Mütter sollten 24 Stunden nach der Geburt von ihren Kindern getrennt werden. In Erziehungsratgebern bekamen Mütter zum Beispiel den Rat, nur 15 Minuten am Tag mit ihrem Kind zu spielen.

Die Folgen einer lieblosen Erziehung

Viele der ehemaligen Kurkinder leiden bis heute unter den Folgen der Erniedrigungen und Quälereien, die sie in den Verschickungsheimen erlebten. Sie berichten von Lernschwächen, Angststörungen und Depressionen, von Sozial- und Beziehungsstörungen.

"Kinder beziehen ihren eigenen Wert und ihr Selbstverständnis aus den Rückmeldungen von Erwachsenen", erläutert Kinder- und Jugendpsychologin Eva Möhler. Das bedeute, dass sie Zuschreibungen, negative Betitelungen oder einen ablehnenden Tonfall in ihr Selbstkonzept übernehmen.

Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit können auch dazu führen, dass der Körper mehr Stresshormone ausschüttet. Das könne die Entwicklung des kindlichen Gehirns negativ beeinflussen, erklärt Möhler, die Professorin an der Universität des Saarlandes ist.

Mögliche Folgen: eine schlechte Gefühlsregulierung und mangelnde Impulskontrolle. Aggressive Kindheitserfahrungen, wie viele Verschickungskinder sie beschreiben, vergrößern Studien zufolge auch das Risiko, im späteren Leben psychisch und körperlich krank zu werden.

Eine gute Nachricht ist: Traumatische Kindheitserlebnisse lassen sich auch noch im Erwachsenenalter gut behandeln. Falls schlimme Erinnerungen noch immer heftige Gefühle auslösen oder sich anders bemerkbar machen, zum Beispiel durch Schlaflosigkeit, starkes Misstrauen oder einem Immer-unter-Strom-Stehen, dann mache es Sinn, sich in Behandlung zu begeben, betont Psychiaterin Möhler.

Mann und Kind kuscheln auf einem Sofa.

Kinder brauchen liebevolle Zuwendung für gute Entwicklung

Betroffene wünschen sich Aufarbeitung

Auch eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse in den Kurheimen kann den Betroffenen helfen, mit dem Erlebten besser umzugehen. "Viele Betroffene sagen: Wir brauchen keine Therapie, wir brauchen Aufklärung", berichtet Anja Röhl von der "Initiative Verschickungskinder".

Die ehemaligen Verschickungskinder wollten gehört und ernst genommen werden. Allmählich kommt Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Eine Aufarbeitung kann beginnen.

Quelle: SWR | Stand: 03.10.2022, 16:00 Uhr

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