Portraitaufnahme von Prof. Andreas Fritsche.

Diabetes

Interview: "Eine Krankheit wie jede andere"

Sieben Millionen Menschen leiden in Deutschland an Diabetes – rund 90 Prozent von ihnen an Diabetes Typ 2. Trotzdem gilt die Erkrankung vielen als nicht so gefährlich. "Wir wissen immer noch viel zu wenig über den Diabetes", sagt Prof. Andreas Fritsche. Er ist Diabetologe und Ernährungsmediziner am Uniklinikum Tübingen.

Von Barbara Garde

Planet Wissen: Prof. Fritsche, die Zahlen bei Diabetes-Patienten steigen immer weiter, manche sprechen von einer Volkskrankheit. Ist Diabetes eine Zivilisationskrankheit, die von unserem Lebensstil befördert wird?

Prof. Andreas Fritsche: Es stimmt, die Diabeteszahlen nehmen weltweit zu, besonders in Schwellenländern wie Mexiko, Indien oder China steigen sie rasant an. Das würde für eine Zivilisationskrankheit sprechen. Aber ich finde den Begriff Zivilisationskrankheit nicht ganz zutreffend. Das signalisiert: Man weiß, was dahintersteckt. Aber es ist nicht so, dass der sogenannte ungesunde Lifestyle die einzig treibende Kraft für den Diabetes ist.

Was ist denn Diabetes genau?

Ich vergleiche das einmal mit Krebserkrankungen: Da unterscheidet man in Lungen-, Brust-, Haut-, Prostatakrebs… es gibt hunderte unterschiedliche Krebsformen, die auch unterschiedlich behandelt werden. Beim Diabetes spricht man dagegen nur vom Typ-1- und Typ-2-Diabetes, vielleicht noch vom Schwangerschaftsdiabetes.

In Wahrheit stecken aber hinter dem Sammelbecken Typ-2-Diabetes eine Vielzahl von Untergruppen – wir nennen sie Subphänotypen. Die Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass viele unterschiedliche Krankheitsentstehungsformen dahinterstehen.

Es gibt zum Beispiel Menschen, die bekommen Diabetes, weil sie stark übergewichtig sind. Es gibt aber auch ganz schlanke Typ-2-Diabetespatienten. Andere Menschen wiederum bekommen sehr schnell Folgeerkrankungen, manche schon, bevor der Diabetes richtig ausgebrochen ist.

Diese gefürchteten Folgeerkrankungen betreffen Augen, Nieren, Nerven, Herz und Gefäße. Und andere haben über Jahrzehnte Diabetes ohne jede Folgeerkrankung. Es gibt also offensichtlich sehr aggressive, aber auch weniger aggressive Diabetesformen.

farbliche Zeichnung der Bauchspeicheldrüse.

Die Bauchspeicheldrüse

Welche Rolle spielt die Ernährung?

Übergewicht ist ein wichtiger Risikofaktor: Es beeinflusst Stoffwechselvorgänge, die Diabetes begünstigen. Aber es ist nicht die alleinige Ursache für Diabetes. Sonst hätte ja jeder Übergewichtige Diabetes, das ist natürlich nicht so. Die Mehrheit der Übergewichtigen bekommt keinen Diabetes.

Übergewichtiger Mann hält mit beiden Händen seinen Bauch.

Übergewicht ist ein Hauptrisikofaktor für Diabetes Typ 2

Die Grundvoraussetzung für Diabetes ist eine Störung der insulinproduzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse: Bei Typ-1-Diabetes wird gar kein Insulin mehr produziert, bei Typ-2-Diabetes wird meist zu wenig Insulin produziert. Das kann nicht einfach durch eine Ernährungsumstellung aufgefangen werden.

Es ist aber möglich, dass man durch eine ausgewogene Ernährung und Vermeidung von Übergewicht das Risiko verringert, Diabetes zu bekommen. Wenn das Gewicht verringert wird, kann sich die Bauchspeicheldrüse erholen, die Insulinproduktion kann wieder steigern, aber die Grundstörung in der Insulinproduktion kann ich damit nicht beseitigen. Es ist eine Entlastung, aber keine absolute Heilung.

Es herrscht ja vielfach die Meinung vor, dass Diabetes-Typ-2-Patienten selbst schuld an der Erkrankung sind, wegen ihres falschen Lebensstils. Ist da etwas dran?

Das ist ein Stigma, das die Patienten sehr belastet. Oft geben sich die Patienten selbst die Schuld und sagen "ich habe gesündigt", "ich bin selbst schuld", "ich habe es nicht geschafft, genug abzunehmen". Dazu muss man sagen: Es gibt einfach genetische Dispositionen, mit denen man anfälliger für Typ-2-Diabetes ist.

Manche Menschen reagieren besser auf Ernährungsumstellungen und Sport. Andere machen Sport, aber ihr Stoffwechsel reagiert gar nicht darauf. Wir nennen sie Responder und Non-Responder: Das gibt es auch bei Medikamenten: Manche Patienten reagieren nicht auf bestimmte Medikamente.

Aber die Allgemeinheit denkt, wenn etwas nicht wirkt, dann wird sich der Patient wohl nicht genug angestrengt haben. Manche Ärzte verordnen erst gar keine Medikamente, bevor die Patienten nicht eine gewisse Menge Körpergewicht abgenommen haben. Wenn ein Patient das aber über Monate und Jahre nicht schafft, können so ohne adäquate Therapie schwere Folgeerkrankungen auftreten.

Wird Diabetes Typ 2 als Krankheit unterschätzt?

Definitiv! Wenn ein Diabetes-Typ-2-Patient mit einem Blutzuckerwert von 300 oder 400 mg/dl Milligramm pro Deziliter in eine Notaufnahme eines Krankenhauses eingeliefert wird, wird er in aller Regel leider nicht stationär aufgenommen, sondern wieder an den Hausarzt verwiesen. Dabei kann so etwas sehr gefährlich sein.

Auch Unterzuckerung wird oft nicht so richtig ernst genommen. Bei "richtigen" Krankheiten legt man Katheter, schneidet und operiert. Diabetes behandelt man mehr mit sprechenden Medikamenten – vergleichbar mit anderen chronischen Erkrankungen, und solche Erkrankungen haben es schwer ernst genug genommen zu werden. Wir müssen Typ-2-Diabetes als Krankheit sehen wie jede andere und ernst nehmen.

Box voller Schokoladenpralinen.

Lecker, aber auf Dauer gefährlich: Süßigkeiten

Die Behandlung des Typ-2-Diabetes ist zu großen Teilen eine präventive Medizin, die nicht nur den Blutzucker senken soll, sondern auch Folgeerkrankungen verhindern will. Diabetes ist ja zunächst eine Krankheit ohne großen Leidensdruck.

Wir müssen dem Patienten begreiflich machen, dass er jetzt etwas tun muss, damit er Folgeerkrankungen in zehn Jahren verhindert. Als Menschen reagieren wir ja immer auf die unmittelbare Bedrohung und nicht auf Bedrohungen in der Zukunft – wie man ja auch an der Klimakatastrophe sieht.

Was sollte sich in der Behandlung von Typ-2-Diabetes Patienten ändern?

Diabetes ist keine einheitliche Krankheit. Sie ist ganz individuell. Es gibt sicher mindestens fünf größere Untergruppen des Diabetes und circa 300 Gen-Orte, die den Diabetes verursachen.

Wir müssen die Unterformen des Diabetes besser verstehen und eine Präzisionstherapie durchführen: Der übergewichtigen Patient muss anders behandelt werden als der Schlanke, derjenige mit Folgeerkrankungen anders als der ohne Folgeerkrankungen, der Ältere anders als der Junge, der Patient mit Migrationshintergrund anders als der Alteingesessene.

Ich muss als Arzt herausfinden: Hat man den Diabetes wegen der verfetteten Leber, wegen des insulinresistenten Muskels, wegen des gestörten Stoffwechsels im Gehirn oder wegen der gestörten Insulinproduktion und Insulinausschüttung. Darauf bezogen müssen gezielt Medikamente eingesetzt werden.

Bisher probieren wir alle Medikamente aus und warten ab, wie sie wirken. Dabei gibt es falsche Abbiegungen auf dem Weg zur optimalen Medikamenteneinstellung. Bei manchen Patienten landen wir viel zu spät beim Insulin, oder wir geben einem Patienten Insulin, der auch gut ohne auskommen würde. Also: Wir müssen viel präziser therapieren. Das wäre effektiver, schonender für den Patienten – und sogar kostengünstiger.

Person spritzt sich Insulin in den Bauch

Viele Diabetiker brauchen Insulinspritzen

Was können wir als Gesellschaft gegen das Fortschreiten des Diabetes tun?

Ich habe gesagt: "Übergewicht ist ein Risiko für Diabetes, nicht der Grund und die alleinige Ursache der Diabeteserkrankung." Wir müssen aber natürlich schauen, dass dieses Risiko gesenkt wird. Dazu gehören die Reduzierung und Kennzeichnung zuckerhaltiger Getränke und industriell gefertigter, kalorienüberladener Nahrung. Und wir müssen uns alle mehr und regelmäßiger bewegen.

Essbare Buchstaben formen die Wörter "HARTZ IV" auf einem Schneidebrett

Armut – ein internationales Diabetes-Risiko

Was oft vergessen wird: Diabetes ist keine Überfluss-, sondern eine Armutserkrankung. Armut ist ganz einfach einer der Hauptrisikofaktoren, um Übergewicht zu entwickeln und Diabetes zu bekommen. In früheren Zeiten gab es kaum Diabeteserkrankte, das waren die wenigen Könige und Adeligen, die die ganze Zeit gesessen und gegessen haben. Heutzutage haben die Reichen deutlich weniger Diabetes.

Studien aus den USA haben angedeutet, dass die beste Diabetesprävention ist, sozial Benachteiligten Geld und Möglichkeiten zu geben, sich hochwertiger und besser zu ernähren. Das ist das Problem, das wir als Gesellschaft angehen müssen.

Quelle: SWR | Stand: 16.01.2021, 18:00 Uhr

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