Eine leere Wohnung mit drei Kartons und einer Lampe.

Wirtschaft und Finanzen

Minimalismus

Sie machen sich nichts aus Statussymbolen und entscheiden sich freiwillig für ein einfaches Leben ohne übermäßigen Konsum: Minimalisten wollen nur das besitzen, was sie wirklich brauchen.

Von Kerstin Deppe

Freiwillig einfacher leben

Der Trend zum Minimalismus kommt aus den USA und wird auch hierzulande immer populärer. Der Lebensstil ist auch bekannt als "Einfaches Leben" (englisch: Simple Living), "Freiwillige Einfachheit" (Voluntary Simplicity) oder Downshifting.

Gemeint ist immer dasselbe: ein bewusster Verzicht auf übermäßigen Konsum und ein kritisches Hinterfragen der eigenen Verhaltensweisen. Dabei spielen nicht nur Kaufen und Besitz eine Rolle, sondern auch Beziehungen, Freizeit und Arbeit.

Warum entscheidet sich jemand, freiwillig auf materiellen Wohlstand, Besitz und Konsum zu verzichten? Die Gründe dafür sind individuell verschieden, ebenso das Ausmaß des Verzichts.

Der eine vermeidet Autofahrten und Urlaubsflüge, der andere den Einkauf beim Discounter, der dritte verschenkt fast sein gesamtes Hab und Gut.

Eine einheitliche minimalistische Lebensweise gibt es nicht. Wohl aber eine gemeinsame Grundhaltung: Minimalisten suchen nach einer Alternative zur konsumorientierten Überflussgesellschaft, wollen aus Alltagszwängen ausbrechen und ein erfüllteres und selbstbestimmteres Leben führen.

Überdruss am Überfluss

Viele Minimalisten handeln aus einer inneren Unzufriedenheit heraus. Sie fühlen sich überlastet oder entfremdet. Oft führen auch äußere Umstände wie Umzug oder Familiengründung dazu, alte Verhaltensweisen und Wertvorstellungen zu überdenken.

Der Schritt in ein einfacheres Leben beginnt meistens mit einer Entrümpelung des eigenen Lebensumfelds – und der Entscheidung, sich künftig auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist.

Ein Mann sitzt auf einem Sessel, hinter ihm unordentliche Bücherstapel, Kisten und Lampen.

Heißt zu viel Besitz gleich mehr Belastung?

Minimalisten sehen zu viel Besitz als Ballast. Um Dinge muss man sich kümmern, man muss sie anschaffen und bezahlen. Das kostet Lebenszeit – und die wollen die Minimalisten lieber mit anderen Dingen verbringen.

Es kommt ihnen unsinnig vor, immer mehr zu arbeiten, um mit immer größerem Aufwand immer mehr Dinge zu kaufen, die sie eigentlich nicht brauchen.

Verzicht auf Konsum ist für sie eigentlich kein Verzicht, sondern eine Befreiung und Entlastung. Sie haben weniger Dinge, aber dafür mehr Zeit. Sie müssen weniger arbeiten und können sich von Termindruck befreien.

Neben persönlichen gibt es ethische und ökologische Motive für den freiwilligen Verzicht. Oft vermischen sich auch die Gründe.

Das Wissen, dass die Erde keinen Platz für unendliches Wachstum bietet, dass die Dinge, die wir kaufen, oft unter unmenschlichen und ökologisch schädlichen Bedingungen hergestellt werden, verdirbt vielen die Kauflaune.

Minimalisten wollen Verschwendung, Ausbeutung und Raubbau an der Natur nicht mit ihrem Geld und unnötigem Konsum unterstützen.

Dieser verantwortungsvolle Umgang mit Mensch und Natur zeigt sich auch in anderen Bereichen:

Für viele Minimalisten beinhaltet ein einfacherer Lebensstil auch eine bewusstere und fleischlose Ernährung, soziales Engagement und das Bestreben, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, zum Beispiel durch Energiesparen, Abfallvermeidung oder den Einkauf in Second-Hand-Läden.

Ein Tag im Leben einer Minimalistin

Planet Wissen 06.06.2022 02:20 Min. UT Verfügbar bis 25.04.2024 WDR

Die Qual der Wahl

Je schneller, komplizierter und unübersichtlicher unsere Lebenswelt wird, desto größer wird die Sehnsucht nach einem einfacheren Leben.

Wenn unser Besitz unsere Aufmerksamkeit fordert und jeder Supermarkteinkauf zur Herausforderung wird, weil wir bei jedem Glas Marmelade, jeder Tube Zahnpasta aus einem riesigen Angebot auswählen können und müssen, kann das stressen und die Psyche überfordern.

Eine Frau steht vor ihrem Kleiderschrank und sortiert aus.

Jeder kennt sie – die Qual der Wahl

Der Psychologe Barry Schwartz nennt das "The Paradox of Choice", zu Deutsch: das Paradoxon der Wahlmöglichkeiten. Seine These: Zu viele Wahlmöglichkeiten erhöhen nicht unsere Freiheit, sondern sie lähmen uns, machen uns unfrei und unzufrieden.

Hinzu kommt, dass sich in einer globalisierten Wirtschaft bei vielen Dingen kaum nachvollziehen lässt, woher sie stammen und unter welchen Bedingungen sie hergestellt wurden. Das macht es schwer bis unmöglich, eine rationale und subjektiv gute Entscheidung zu treffen.

Wer bewusst konsumieren möchte, muss oft einen großen Aufwand betreiben: das Kleingedruckte lesen, im Internet recherchieren, Produkt- und Preisvergleiche anstellen. Auch das weckt den Wunsch nach Verzicht und mehr Einfachheit.

Minimalisten bauen ihr Gemüse gerne selbst an, kaufen gezielt regionale Produkte, reparieren Dinge oder tauschen, teilen und leihen Gegenstände, die sie nicht oft brauchen. Ihr Ziel: weniger Komplexität, mehr Selbstbestimmung und mehr Wertschätzung für die Dinge, mit denen sie sich umgeben.

"Cult of Less": Minimalismus 2.0

Ein Vorreiter des neuen Trends zum einfachen Leben ist der US-amerikanische Konsumkritiker David Michael Bruno. Er startete 2008 die "100 Thing Challenge" – ein Projekt mit dem Ziel, seinen persönlichen Besitz auf weniger als 100 Dinge zu reduzieren. Über seine Erfahrungen berichtete er auf seinem Blog und in einem Buch.

Ein weiterer Wegbereiter ist der New Yorker Kelly Sutton. Der Programmierer begann im Jahr 2009, fast seinen gesamten Besitz über eine eigene Website zu verkaufen und begründete damit den "Cult of Less".

Das Internet spielt für die Neo-Minimalisten generell eine große Rolle. Sie nutzen es zum Erfahrungsaustausch und als Plattform für das Teilen und Co-Konsumieren von Produkten.

Viele schaffen ihre Bücher, CDs und Videos ab und nutzen stattdessen digitale Angebote wie eBooks oder Streamingdienste. Deshalb gehören Laptop, Tablet oder Smartphone zu den wenigen Dingen, von denen sich viele Minimalisten nie trennen würden – und für die sie verhältnismäßig viel Geld ausgeben.

Ausprobieren, wie es sich anfühlt, ohne Konsum zu leben: Auch das geht im Internet, mit der Kampagne "Ein Jahr ohne Zeug". Sie wurde von einer Berliner Agentur ins Leben gerufen und soll dazu anregen, das eigene Kaufverhalten zu reflektieren und neue Modelle zu testen.

Die Teilnehmer verpflichten sich, freiwillig ein Jahr lang auf den Kauf von Gebrauchsgütern zu verzichten. Mitmachen kann jeder, eine Kontrolle gibt es nicht. Die Initiatoren sehen die Initiative als Gesellschaftsspiel. Dreh- und Angelpunkt ist die Facebook-Seite des Projekts.

Neuer Trend oder alter Hut?

Auch wenn "Weniger ist mehr" derzeit boomt: Neu ist der Wunsch nach einem reduzierten Lebensstil nicht. In fast allen Religionen spielt der Verzicht auf materielle Güter eine wichtige Rolle.

Schon vor vielen Jahrhunderten zogen sich Gläubige ins Kloster zurück, gab es Mönche und Asketen, die sich in Verzicht und Enthaltsamkeit übten, um zu höheren Erkenntnissen oder persönlichem Wachstum zu gelangen.

Weltliche Ansätze lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Der Philosoph Diogenes von Sinope etwa war der Meinung, dass nur der wirklich glücklich sein kann, der sich von überflüssigen Bedürfnissen und äußeren Zwängen befreit. Er führte freiwillig ein Leben in Armut und Selbstgenügsamkeit:

"Es ist göttlich, nichts zu bedürfen, und gottähnlich, nur wenig nötig zu haben."

Porträtfotografie: Henry David Thoreau, coloriert

Henry David Thoreau lebte zwei Jahre in einem einsamen Blockhaus

Ein begeisterter Verfechter des einfachen Lebens war auch der Amerikaner Henry David Thoreau. Er zimmerte sich 1845 eine Blockhütte und lebte zwei Jahre auf einem Waldgrundstück am See – allein und selbstständig, aber nicht zurückgezogen.

Er war kein Aussteiger, sondern wollte sich selbst und der Zeit, in der er lebte, auf den Grund kommen.

In seinem Buch "Walden oder Leben in den Wäldern" berichtete er über seinen Versuch, einen alternativen und ausgewogenen Lebensstil zu praktizieren.  "Walden" wurde schnell Kult und gilt bis heute als eine Bibel des einfachen Lebens.

Im Film "Der Club der toten Dichter"(1989) wird zu Beginn jedes Club-Treffens eine Passage aus dem Buch zitiert:

"Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.

Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde."

Quelle: SWR | Stand: 19.03.2020, 15:50 Uhr

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