Nordrhein-Westfalen

Arbeitersiedlungen

Ob in Bottrop, Oberhausen, Essen, Gelsenkirchen oder Dortmund: Arbeitersiedlungen prägen auch heute noch das Gesicht des Ruhrgebiets, obwohl alle Zechen stillgelegt sind. Entstanden sind sie während der industriellen Blütezeit des Ruhrgebiets.

Von Christoph Teves

Die Industrie braucht Arbeitskräfte

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ist das heutige Ruhrgebiet zu großen Teilen schwach besiedeltes Bauernland. Insgesamt leben hier nur 250.000 Menschen. Durch die Industrialisierung ändert sich das Bild: Zechen, Hütten- und Stahlwerke entstehen, und diese neuen Betriebe brauchen Arbeiter.

Zunächst kommen Zuwanderer aus benachbarten Regionen wie dem Siegerland, aus Westfalen und dem Rheinland. Doch mit dem Aufschwung des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie ab den 1870er-Jahren wächst der Bedarf an Arbeitskräften stark.

Die Zechenbetreiber werben in weiter entfernten Gegenden um Arbeiter, vor allem in ländlichen Gegenden Polens und in den preußischen Ostprovinzen. Eine riesige Wanderungsbewegung setzt ein.

Das explosionsartige Bevölkerungswachstum führt schnell zu einem dramatischen Wohnungsmangel. Die wenigen Häuser sind überbelegt und wegen der schlechten sanitären Verhältnisse Brutstätten für Seuchen und Epidemien. Die Werksbesitzer reagieren und bauen in der Nähe der Zechen Siedlungen für ihre Arbeiter.

Mit diesen Werkssiedlungen wollen sie zum einen die Arbeiter und ihre Familien sesshaft machen und qualifizierte Kräfte an den Betrieb binden. Zum anderen sind große und günstige werkseigene Wohnungen wichtige Argumente, wenn es für die Zechen darum geht, neue Arbeiter anzuwerben.

Straßenzug in einer Siedlung. Eineinhalbgeschossige Doppelhäuser reihen sich links der Straße aneinander. An beiden Seiten der Straße stehen junge Bäume. Ein Pferdefuhrwerk fährt die Straße entlang.

Siedlung Vondern in Oberhausen um 1913

Preiswerte Wohnungen

Der Werkssiedlungsbau entwickelt sich zu einem Massenphänomen und mildert die Wohnungsprobleme, die die Einwanderungswelle schafft. Um 1900 lebt rund jeder fünfte Arbeiter und sogar jeder dritte Bergarbeiter im Ruhrgebiet in einer der über 25.000 Siedlungswohnungen.

Diese Wohnungen sind größer und zum Teil fast um die Hälfte billiger als auf dem freien Markt. Auch unterscheiden sich die Siedlungen grundsätzlich von den riesigen Arbeiterkasernen, die in Großstädten wie Berlin und Hamburg üblich sind und den Bewohnern wenig Raum, Licht und Luft lassen.

Beim Bau der Arbeitersiedlungen versucht man stattdessen, die dörfliche Heimat der Zuwanderer zu berücksichtigen und ihre Bindung an die Natur zu bewahren: Typisch sind ein- oder zweistöckige Backsteinhäuser mit vier Wohnungen. Jede Wohnung hat einen eigenen Eingang, drei bis vier Zimmer und ist um die 50 Quadratmeter groß. Die Elternschlafzimmer befinden sich oft im oberen Stockwerk, damit die Schichtarbeiter tagsüber in Ruhe schlafen können.

Die Häuser stehen nebeneinander gereiht und sind durch schmale Fußwege miteinander verbunden. Hinter den Häusern befinden sich Gärten mit Ställen. Hier können die Familien Gemüse, Kartoffeln und Obst anbauen und sich ein Schwein halten – oder eine "Bergmannskuh". Diese "Kuh" braucht jedoch erheblich weniger Platz als normale Rindviecher, denn Bergmannskuh ist die scherzhafte Bezeichnung für eine Ziege.

So bessern sich die Bergleute ihren Unterhalt auf. Für die höheren Angestellten werden meist eigene Siedlungen mit geräumigeren Wohnungen gebaut, die von den Arbeiterkolonien deutlich getrennt sind.

Zwei zweigeschossige Zechenhäuser. Auf den Dächern sind Satellitenschüsseln angebracht. Vor den Häusern liegen niedrige Ställe und davor Gemüsegärten, die von Maschendrahtzaun begrenzt sind. In den Gärten stehen Reihen von niedrigen Grünpflanzen.

Obst und Gemüse aus eigenem Anbau

Kontrolle durch die Unternehmen

Die zumindest teilweise Eigenversorgung ist allerdings nicht nur für die Bewohner attraktiv, sondern auch für die Unternehmen. Gemeinsam mit den niedrigen Mieten sorgt sie für relativ geringe Lebenshaltungskosten, die wiederum niedrige Löhne ermöglichen.

So können sich viele Familien auch eine Koloniewohnung nur leisten, indem sie einen oder mehrere Untermieter aufnehmen, so genannte Kost- oder Schlafgänger. Diese bessern zwar die Kasse der Familien auf, sorgen aber auch für äußerst beengte Wohnverhältnisse.

Dennoch: Im Vergleich zum freien Wohnungsmarkt bieten die Zechenbetreiber ihren Arbeitern äußerst günstige Mietbedingungen. Sie tun dies, um qualifizierte Leute langfristig an ihren Betrieb zu binden. Darum koppeln sie auch oft Arbeits- an Mietverträge. Dadurch verliert ein Bergarbeiter, der seine Stelle kündigt, etwa weil er in einer anderen Zeche anfangen möchte, automatisch seine Wohnung.

Unternehmen wie Krupp oder die Gutehoffnungshütte schreiben in ihren Mietverträgen zudem oft rigide Verhaltensmaßregeln für die Mieter fest. Überwacht werden die Bewohner dabei nicht nur durch die soziale Kontrolle ihrer Nachbarn, sondern zum Teil durch regelrechte Aufseher. Diese wohnen zentral in den Kolonien und halten stets ein waches Auge auf das Treiben in den Siedlungen.

Die Rechnung der Unternehmer geht auf: Die zugewanderten Arbeiter werden in den Siedlungen vor den Toren der Zechen und Fabriken heimisch. Koloniebewohner wechseln ihre Stelle erheblich seltener als Arbeiter, die nicht in Siedlungen leben.

Alfred Krupp von Bohlen und Halbach, deutscher Unternehmer der Kruppschen Gussstahlfabrik, aufgenommen circa 1880.

Alfred Krupp (1812-1887) baute für seine Arbeiter zahlreiche Siedlungen

Von der Gleichförmigkeit zur Vielfalt

Der Bau von Arbeitersiedlungen geschieht bis 1890 vor allem unter sachlichen und zweckmäßigen Gesichtspunkten: Preiswerter Wohnraum muss her. Die Planung der Siedlungen ist somit eine Aufgabe für die Bauplaner und Techniker der Zechen und nicht für künstlerisch ausgebildete Architekten.

Dementsprechend sehen frühe Siedlungen oft recht eintönig und phantasielos aus: Der Grundriss ist rasterförmig. Die schlichten Backsteinhäuser sehen sich zum Verwechseln ähnlich und stehen in gleichmäßigem Abstand voneinander in rechtwinkligen Reihen.

Ab 1890 beginnt sich auch die Architektur für den Bau von Arbeitersiedlungen zu interessieren und kritisiert die geometrisch starren Bebauungspläne. Das Bild der Siedlungen ändert sich. Sie werden grüner und abwechslungsreicher. Mit der Idee der Gartenstadt, die Anfang des 20. Jahrhunderts von England nach Deutschland schwappt, tritt endgültig der ästhetische und künstlerische Gesamtentwurf vor den reinen Nutzwert einer Siedlung.

Die Gartenstadtbewegung entsteht als Reaktion auf die katastrophalen Verhältnisse in Arbeitervierteln von Metropolen wie New York und London. Den Elendsquartieren wird ein Siedlungsentwurf entgegengesetzt, der die Häuser in Gärten und ins Grüne einbettet, eine lockere Bauweise und Einfamilienhäuser bevorzugt.

Die Siedlungsplaner im Ruhrgebiet übernehmen diese Gartenstadt-Ideen: Straßen und Wege werden geschwungen angelegt und mit Plätzen verbunden. Häuser werden nicht isoliert betrachtet, sondern in Gruppen angeordnet. Solche Gartenstadt-Einflüsse finden sich zum Beispiel in der Siedlung Teutoburgia in Herne oder in der Gartenstadt Welheim in Bottrop.

Häuserzeile in einer Siedlung. Jedes der weißen Häuser mit rotem Dach ist anders gestaltet.

Siedlung Teutoburgia in Herne

Prächtiger Sonderfall: Margarethenhöhe

Im Essener Süden liegt eine der bekanntesten Siedlungen des Ruhrgebiets: die Margarethenhöhe. Allerdings ist das Vorzeigeviertel streng genommen keine Arbeitersiedlung und zählt nicht zum Werkswohnungsbau. Denn Margarethenhöhe wird Anfang des 20. Jahrhunderts nicht von einer Zeche oder einer Fabrik gegründet, sondern von der privaten Margarethe-Krupp-Stiftung.

Die Witwe des Industriellen Alfred Krupp ruft die "Stiftung für Wohnungsfürsorge für minderbemittelte Klassen" 1906 ins Leben. Anlass ist die Hochzeit ihrer Tochter. Eine Million Mark und 50 Hektar Land stellt Margarethe Krupp ihrer Stiftung zur Verfügung.

Ab 1909 wird Margarethenhöhe gebaut. Die Leitung hat der hessische Architekt Georg Metzendorf. Und der kann so frei schalten und walten wie kaum einer seiner Berufskollegen. Durch einen Regierungsbeschluss ist das Siedlungsprojekt von allen damals geltenden Bauvorschriften befreit.

Neben der Gartenstadt-Idee prägt der romantische, süddeutsche Einfluss das Bild der Siedlung. Die Häuser sind wie in einer dörflichen Siedlung angeordnet. Ihre Fassaden, Dächer und Fenster sind individuell und damit abwechslungsreich gestaltet.

Später löst ein funktionalerer Stil die romantischen Giebelhäuser ab. Die Wohnungen sind für damalige Verhältnisse fast schon luxuriös ausgestattet, unter anderem mit Kachelofenheizung und Wasserklosett. Margarethenhöhe steht von Beginn an nicht nur Arbeitern der Krupp-Werke offen, sondern allen "Minderbemittelten", die nicht genügend Kapital zum Hausbau haben.

Seit 1948 ist die Siedlung ein eigenständiger Stadtteil Essens und bei den gut 8000 Einwohnern auch heute noch eine beliebte Wohngegend.

Fassade in der Essener Siedlung Margarethenhöhe. Rankpflanzen und Blumen in Kübeln verzieren das weiße Haus.

Margarethenhöhe – Grün wohin man schaut

(Erstveröffentlichung: 2004. Letzte Aktualisierung: 24.07.2020)

Quelle: WDR

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