Mädchenchor der Colonia Dignidad bei einer Aufführung.

Chile

Colonia Dignidad – deutsche Sekte in Chile

"Kolonie der Würde" hieß die Siedlung in Chile, die der deutsche Laienprediger Paul Schäfer leitete. Ein Name, der an Zynismus kaum zu übertreffen ist. Die Colonia Dignidad war in Wahrheit eine von der Außenwelt abgeriegelte Sekte, in der Menschen körperlich sowie psychisch missbraucht wurden.

Von Katrin Ewert, Marika Liebsch

Vom Jugendbetreuer zum Siedlungschef

Der Deutsche Paul Schäfer, ein ehemaliger evangelischer Jugendbetreuer und Laienprediger, gründete bereits in den 1950er Jahren in Deutschland eine damals noch namenlose religiöse Sekte. Viele Familien aus Deutschland und Österreich schlossen sich ihm an. 1961 ermittelte die deutsche Staatsanwaltschaft gegen Schäfer wegen der Vergewaltigung von zwei Jungen in seiner Gemeinde. Daraufhin floh er mit rund 150 seiner Anhänger nach Chile.

Rund 400 Kilometer südlich von der Hauptstadt Santiago gründete Schäfer eine von der Außenwelt abgeriegelte Siedlung: die Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad (Wohltätigkeits- und Bildungsgemeinschaft Würde), oder kurz Colonia Dignidad (Kolonie der Würde). Er baute einen Landwirtschaftsbetrieb auf, in dem die Bewohner Zwangsarbeit leisten mussten.

Schäfer hielt enge Kontakte zu rechtsextremen chilenischen Gruppen. Er unterstützte 1973 den Militärputsch und die Machtergreifung des Diktators Augusto Pinochet, indem er Waffen aus Deutschland beschaffte. Außerdem ermöglichte er Pinochets Geheimdienst, auf dem Siedlungsgelände politische Kritiker zu foltern und zu ermorden.

Ein Tor mit dem Schriftzug "Benefactora Dignidad".

Das Haupttor zur Siedlung war stets bewacht

Kindesmissbrauch in scheinbar heiler Welt

Von außen sah das Gelände der Colonia Dignidad aus wie ein landwirtschaftlicher Musterbetrieb mit volkstümlichem Charakter. Die Bewohner präsentierten sich zu offiziellen Anlässen traditionell im Dirndl oder in Kniebundhosen, akkurat frisiert und lächelnd.

Es gab ein Internat und ein modernes Krankenhaus. Chilenen aus den benachbarten Dörfern durften in der Colonia kostenlos zur Schule gehen und sich im Krankenhaus behandeln lassen. Die Deutschen aus der Kolonie versorgten die Umgebung günstig mit Brot und Milchprodukten und waren schnell sehr angesehen. Ihre Siedlung wurde vom chilenischen Staat als gemeinnützig anerkannt.

Das Gelände war mit Stacheldraht eingezäunt und Besucher wurden strikt abgewiesen. Was tatsächlich hinter den Mauern passierte, wussten lange Zeit nur die Mittäter und die unfreiwillig Eingesperrten. Chilenen, die ihre Kinder ins Internat oder zur medizinischen Behandlung brachten, stellten schwere Misshandlungen bei ihnen fest. Manche sahen ihre Kinder jahrelang nicht wieder.

Doch ihren Anklagen wurde kein Glauben geschenkt. Pinochets Diktatur profitierte zu sehr von Schäfers Sekte. Die chilenischen Eltern konnten von der Regierung keine Hilfe erwarten.

Ein Frau mit zwei Kindern in der Colonia Dignidad in Chile.

Die vermeintlich heile Welt auf offiziellen Fotos

Unrechtsregime und Menschenversuche

Die Kinder der etwa 250 deutschen Sektenmitglieder durften nicht mit ihren Eltern in Familien zusammenleben. Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen lebten in streng getrennten Gruppen. Die Kinder wussten oft nicht, wer ihre Eltern waren und dass sie Geschwister hatten.

Schäfer entführte zahlreiche deutsche sowie chilenische Kinder und hielt sie in der Kolonie fest. Jungen wurden von Paul Schäfer und anderen führenden Sektenmitgliedern regelmäßig gezüchtigt und sexuell missbraucht.

Im Krankenhaus wurden die Kinder mit Elektroschocks und psychischen Behandlungen gefügig gemacht. Das gestand die Leiterin der Klinik, Gisela Seewald, vor dem chilenischen Gericht im Jahr 2005.

Den Erwachsenen ging es nicht viel besser. Durch ein perfides System von körperlichem und seelischem Zwang, Erpressung und religiöser Gehirnwäsche behandelte sie der Siedlungschef wie Leibeigene und hielt sie gefangen. Eine Flucht war kaum möglich.

Gute Kontakte

Den wenigen, denen die Flucht gelang, wurde nicht geglaubt. Ehemalige Sektenmitglieder berichten, dass selbst die Deutsche Botschaft bis 1985 Flüchtlinge wieder zurück in die Kolonie schickte. Die Kolonie hatte sich zu einem großen Wirtschaftsunternehmen entwickelt. Sie hatte eine eigene Flugzeuglandebahn, unterirdische Bunker und pflegte Kontakte zu deutschen Politikern und Diplomaten.

Bis in die 1990er Jahre hing ein handsigniertes Porträt des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß in dem zentralen Bau der Siedlung. Strauß hatte 1977 die Siedlung besucht und sich danach nie kritisch darüber geäußert.

Weitere deutsche Politiker wie Wolfgang Vogelsgesang (CSU) besuchten die Kolonie und hatten Kontakt zu Paul Schäfer, obwohl er sich mit seiner Flucht nach Chile einer Verhaftung in Deutschland wegen Kindesmissbrauchs entzogen hatte.

Auch die chilenische Justiz und Politik reagierten nicht, obwohl die Eltern der verschwundenen chilenischen Kinder nicht aufhörten, Klage zu erheben.

Amnesty International und die UNO berichteten seit 1977 immer wieder über die deutsche Sekte in Chile. Der deutsche Journalist Gero Gemballa recherchierte und informierte ausführlich über das Unrechtssystem Colonia Dignidad. Im Alter von 40 Jahren starb er plötzlich an Herzversagen. Es gab Spekulationen über ein Giftattentat. Diese wurden jedoch nie bewiesen.

Eltern demonstrieren mit Plakaten vor der Siedlung der Colonia Dignidad.

Immer wieder demonstrierten Eltern vor der Siedlung

Die erste Verurteilung – nach 33 Jahren

Erst in den 1990er Jahren, nachdem Pinochet nicht mehr im Amt war, erließ die chilenische Justiz einen Haftbefehl. Zunächst nur gegen Sektengründer Paul Schäfer. Inzwischen hatten die missbrauchten chilenischen Kinder, die in der Kolonie zur Schule gingen oder im Krankenhaus behandelt wurden, ihre Missbrauchsvorwürfe ausführlich dokumentiert.

Chile geht gegen die Colonia Dignidad vor (am 01.02.1991)

WDR ZeitZeichen 01.02.2021 14:52 Min. Verfügbar bis 02.02.2099 WDR 5


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Mehrfach durchsuchte die Polizei die Colonia Dignidad, doch stets war die Führungsriege um Paul Schäfer inklusive belastender Beweise ausgeflogen. Sie waren rechtzeitig gewarnt worden. Die Colonia-Leiter kehrten erst wieder zurück, als die Polizisten das Gelände verlassen hatten.

Paul Schäfer tauchte schließlich im Jahr 1997 unter. 2004 wurde er in Abwesenheit bei einem Gerichtsprozess in Chile wegen Misshandlung und Missbrauchs von mindestens 27 Kindern und illegalen Waffenhandels für schuldig gesprochen.

Ein Jahr später wurde er in Argentinien festgenommen und an Chile ausgeliefert. Dort wurde er wegen Steuerhinterziehung, Zollbetrugs, Entführung, Kindesmissbrauchs, Zwangsadoption und Verstößen gegen das Arbeitsgesetz zu 20 Jahren Haft verurteilt. Schäfer starb 2010 im Alter von 88 Jahren in einem Gefängnishospital in Santiago de Chile.

Fahndungsplakat der chilenischen Polizei mit vier Fotos von führenden Colonia Dignidad Mitgliedern.

Die chilenische Polizei suchte nach den Sektenführern.

Die Ermittlungen gehen weiter

Die Ärztin des Colonia-Krankenhauses, Gisela Seewald, wurde 2005 nach ihrem Geständnis vor dem chilenischen Gericht verurteilt. Weitere Sektenmitglieder wurden im Laufe der Jahre ebenfalls angeklagt. Doch zu Verurteilungen kam es lange Zeit auch deshalb nicht, weil sich viele Zeugen kurz vor ihren Aussagen aus unerklärlichen Gründen plötzlich zurückzogen.

Im Januar 2011 wurden 26 ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad in Chile wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilt und mussten ins Gefängnis.

Darunter befand sich auch Hartmut Hopp, ehemaliger Vizechef der Colonia und Leiter des Krankenhauses. Im Gegensatz zu den anderen Verurteilten floh Hopp vor der chilenischen Justiz nach Deutschland. Seine deutsche Staatsbürgerschaft schützte ihn hierzulande vor der Strafe. Die Krefelder Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Hopp, stellte das Verfahren 2019 jedoch wegen mangelnder Beweise ein. Ende 2020 bestätigte die Generalanwaltschaft in Düsseldorf, dass die Beweise nicht für eine Anklage reichen. Hopp lebt weiterhin straffrei in Krefeld.

Wie viel die deutsche Botschaft und die deutsche Regierung über Schäfers Taten wussten und warum sie nicht eingriffen, ist bis heute nicht bekannt. Die Colonia Dignidad ist weiterhin ein schwieriges außenpolitisches Thema, das im Jahr 2020 noch nicht vollständig aufgeklärt ist.

Die Bundesregierung erstellte Mitte 2018 ein Hilfskonzept für die Hinterbliebenen der Colonia. Einige Bundestagsabgeordnete wie Renate Künast von Bündnis 90/Die Grüne haben sie dafür stark kritisiert, da das Konzept keine Hilfszahlungen an die Opfer vorsah. Erst nach dieser Kritik wurde ein Hilfsfond eingerichtet. Mitte 2020 haben die ersten Opfer Zahlungen erhalten. Das Geld ist für Psychotherapien, Pflege und Bildung vorgesehen.

Die heutige Siedlung

Heute leben immer noch rund 120 Menschen auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad. Viele ehemalige Bewohner sind geblieben, da sie außerhalb der Kolonie niemanden kennen und kein Geld haben, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Mittlerweile heißt die Siedlung Villa Baviera. Sie wirbt mit einem Restaurant, in dem deutsche Spezialitäten serviert werden, einem bayerischen Hotel, und mit der Veranstaltung typisch deutscher Feste, zum Beispiel einem Oktoberfest.

Einige Opfer und Menschenrechtsorganisationen kritisierten, dass die Colonia in einen touristischen Ort umgewandelt wurde. Sie fordern, stattdessen eine Gedenkstätte zu errichten, die über die Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad aufklärt.

Ein weiterer großer Kritikpunkt ist, dass die Söhne und Töchter der engsten Vertrauten von Paul Schäfer die Kolonie weiterhin besitzen und organisieren.

Ein ehemaliger Sektenraum mit alten Fotos.

Die Colonia ist heute ein touristischer Ort

Aufmerksamkeit durch Kinofilm

2015 kam der Film "Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück" in die Kinos. Die Schauspieler Emma Watson und Daniel Brühl belegen die Hauptrollen. Regisseur Florian Gallenberger erzählt in dem Film eine fiktive Geschichte eines jungen Paares, das in der deutschen Sekte gefangen gehalten wird und versucht zu fliehen.

Ehemalige Bewohner der Kolonie bestätigten, dass die Machenschaften von Paul Schäfer im Film authentisch dargestellt sind. Der Kinofilm verschaffte der Thematik erneut internationale Aufmerksamkeit.

Filmszene: Ein Mann und eine Frau rennen vor Soldaten weg

Emma Watson und Daniel Brühl spielen die Hauptrollen im Film über die Colonia Dignidad

(Erstveröffentlichung 2021. Letzte Aktualisierung 05.02.2021)

Quelle: WDR

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