Pressefoto von Dr. Holger Krag. Im Hintergrund erkennt man einen Planeten und Teile einer Sonde.

Satelliten

"Es ist unsere Generation, die handeln muss, damit der Weltraum nutzbar bleibt"

Ein Gespräch mit Dr. Holger Krag, dem Leiter des ESA-Programms für Weltraumsicherheit. Zum Programm gehören die Erfassung der Aktivitäten im Bereich Weltraumschrott, des Weltraumwetters sowie die Beobachtung von Asteroiden.

Von Niels Waibel

Planet Wissen: Herr Dr. Krag, sie sind Leiter des Programms für Weltraumsicherheit der ESA und haben schon oft auf die Bedrohung durch Weltraumschrott hingewiesen. Wieso drängt das Problem so sehr?

Dr. Holger Krag: Das Problem drängt, weil die unmittelbare Zukunft der Raumfahrt durch Raumfahrtrückstände oder Weltraumschrott gefährdet ist. Man muss bedenken, wir haben heute bereits schon 30.000 Objekte im All oberhalb von der Größe eines Fußballs, die bei Kollision mit Satelliten gewaltigen Schaden verursachen.

Und zwar nicht nur für den Satelliten, sondern durch die Zertrümmerung der Satelliten in der Kollision auch über eine Kontaminierung des Weltalls als solches, nämlich durch weitere Trümmer, die dabei entstehen. Die bleiben auch im All und im Laufe der Zeit können diese Trümmer weitere Kollisionen nach sich ziehen, sodass wir also fürchten, dass über eine Abfolge, eine Kettenreaktion oder eine Kaskade an Kollisionen wir Regionen des Weltalls so weit verschmutzen, dass sie vielleicht eines Tages nicht mehr für die Raumfahrt nutzbar sind.

Weltraumschrott

Planet Wissen 04.09.2023 04:58 Min. Verfügbar bis 08.04.2027 SWR

Und inwiefern sind wir davon betroffen, was für Auswirkungen kann das haben?

Also ich glaube, dass man heute die Abhängigkeit von der Raumfahrt noch gar nicht so richtig erfasst. Sie ist bereits sehr, sehr groß. Viele Applikationen auf dem Smartphone hängen bereits davon ab, aber auch Zeitsynchronisation. Zum Beispiel Banküberweisungen oder Bankaktivitäten sind weltweit zeitlich synchronisiert. Das funktioniert nur über Satellitennetze.

Wir wissen über die Bewegung von Kontinenten nur Bescheid aufgrund von Satelliteninformationen. Viele Ferngespräche und Übertragungen sind ohne Satelliten nicht denkbar. Denken Sie nur an die Wettervorhersage, an die Navigation und Ortung, das GPS, das sind alles Daten, die von Satelliten kommen.

Dazu Klimaforschung, Telekommunikation, mitunter die Telefonate selber, die wir führen und in der Zukunft vielleicht sogar ein Teil des Internets. Und von diesen Diensten hängen wir heute schon ab und in der Zukunft werden wir davon noch mehr abhängen. Und deswegen brauchen wir die Raumfahrt.

In der Zukunft werden wir unsere Welt sicherlich noch weiter vernetzen und noch weiter digitalisieren. Ich denke da an Anwendungen wie das autonome Fahren, wo dann auch wirklich Echtzeitverbindung mit wenig Verzögerung und hoher Zuverlässigkeit gebraucht wird, und da denke ich, wird die Raumfahrt noch eine große Rolle spielen.

Katastrophenhilfe aus dem All

Planet Wissen 04.09.2023 03:47 Min. Verfügbar bis 08.04.2027 SWR

Und inwiefern kann der Weltraumschrott solche Systeme jetzt gefährden?

Alles, was wir im Weltall ausbringen an Satelliten, hat eine sehr, sehr hohe Geschwindigkeit. Wir sprechen hier von rund 25.000 Kilometer pro Stunde in niedrigen Erdorbits. Das ist die Geschwindigkeit, die ein Satellit braucht, um sich auf seiner Bahn zu halten. Und sobald er diese Geschwindigkeit einmal erreicht hat, bleibt er mitunter sehr lange im All.

Und alles, was sich von ihm loslöst, Trümmerstücke, Bestandteile, die abgesprengt werden, die bleiben ebenfalls als kleine Satelliten im All, ziehen also mit der gleichen hohen Geschwindigkeit durch das All. Und bei diesen hohen Geschwindigkeiten reicht schon ein kleines Stückchen von einem Zentimeter Größe, um bei einem Einschlag auf einen Satelliten eine Energie freizusetzen, die so ungefähr einer explodierenden Handgranate entspricht.

Wir müssen bedenken, dass die Geschwindigkeit, mit der die Objekte aufeinander aufprallen im Fall einer Kollision zehn bis zwanzig Mal so schnell sind, wie ein Gewehrschuss und das setzt gewaltige Energien frei, die eben die Satelliten unmittelbar zerstören.

Aber ist denn nicht genug Platz im Weltraum? Man denkt ja an die "endlosen Weiten des Alls". Inwiefern muss man das relativieren?

Wenn man an das Weltall denkt, denkt man an die unendlichen Weiten. In Wirklichkeit ist es aber so, dass wir mit der Raumfahrt eigentlich nur einen ganz, ganz kleinen Bereich des Weltalls nutzen. Nämlich den Bereich von 200 Kilometer Höhe bis 2000 Kilometer Höhe, das ist also die Entfernung von Madrid nach Rom ungefähr nach oben.

Da spielt sich zwei Drittel der gesamten Raumfahrt ab, das heißt, den Raum, den wir uns dann teilen, der ist eigentlich sehr, sehr klein. Wir nutzen gar nicht das ganze Weltall für die Raumfahrt, die wir heute betreiben.

Der zweite Faktor sind die hohen Geschwindigkeiten. Ein Objekt legt in einer Sekunde sieben Kilometer zurück. Das heißt selbst wenn der Abstand zwischen zwei Objekten anfangs groß erscheint, ist der in Sekundenbruchteilen überbrückt und insofern wird dieser ohnehin schon enge Raum auch noch konstant beschossen von vielen kleinen Partikeln, die uns in der Raumfahrt das Leben schwer machen.

Inwiefern ist das, was wir heute tun, ausschlaggebend für unsere technische Handlungsfähigkeit von morgen?

Unser Verhalten im Weltall heute bestimmt ganz essentiell die Möglichkeit für zukünftige Generationen Raumfahrt zu betreiben. All das, was wir heute im All entlassen und nicht entsorgt haben, wird im Laufe der Jahre und Jahrzehnte untereinander wechselwirken, Fragmente erzeugen und der Raumfahrt in einer oder zwei Generationen das Leben extrem schwer machen, vielleicht sogar Raumfahrt in einigen Bereichen unmöglich machen.

Und es ist nicht so, dass man später diese Fehler noch korrigieren kann. Heute haben wir eine große Kollision etwa alle fünf Jahre. Jede Kollision hat dramatische Konsequenzen. Wir wissen das hier bei der ESA sehr genau, weil unsere Satelliten nämlich Kollisionsvermeidungsmanöver durchführen müssen, dass wir nicht mit Trümmern zusammenstoßen.

Und jedes Trümmerstück, das im All bleibt, löst neue Kollisionen aus, sodass die mittlere Zeit zwischen zwei Kollisionen immer weiter zusammenschrumpft. Die Kollisionen werden immer häufiger auftreten und die Verschmutzung wird dadurch noch stärker zunehmen. Das geht dann exponentiell nach oben, wenn wir nicht eingreifen.

Das heißt, wir müssen früh handeln, fast vergleichbar mit der Entwicklung des Klimas, wo auch frühes Handeln effizienter ist als späteres Eingreifen. Es ist wirklich unsere Generation, die handeln muss, damit der Weltraum in zwei, drei Generationen noch nutzbar ist.

Verkehrsregeln im Weltraum?

Planet Wissen 04.09.2023 04:58 Min. Verfügbar bis 08.04.2027 SWR

Wie groß ist denn der Aufwand, den die ESA im Moment zur Vermeidung von Kollisionen ihrer Satelliten im All betreiben muss?

Der Aufwand, den die ESA betreiben muss, um Kollision im All zu verhindern, ist beträchtlich. Wir brauchen ein relativ großes Expertenteam, das Kollisionswarnung für unsere Flotte hier von 20 Satelliten Tag und Nacht überwacht, Warnungen auswertet und dann zu einer Entscheidung kommt.

Mit jedem Kollisionsvermeidungsmanöver entstehen Kosten. Einmal wird Treibstoff verbraucht, zum weiteren braucht man Bodenstationen, die das Kommando an den Satelliten geben, die auch Geld kosten und im schlimmsten Fall verliert man wertvolle Daten, weil manchmal Daten während eines Manövers nicht produziert werden können und das ist gar nicht zu beziffern. Also der Aufwand ist beträchtlich.

Wie können wir das Problem lösen?

Wir müssten eigentlich anfangen, Raumfahrtrückstände von vorne herein zu vermeiden. Vermeiden ist immer besser, als nachträglich aufräumen. Sie vermeiden können wir, indem wir zwei ganz einfache Maßnahmen beherzigen. Das eine ist das Verhindern von Explosionen.

Es ist wirklich so, dass wir schon mehrere hundert Male beobachten mussten, dass sich Objekte im All teilweise explosiv zerlegen, weil in ihnen zu viel restliche Energie auch nach dem Betrieb noch erhalten ist. Es kann Treibstoff in den Tanks sein oder Druck in den Tanks. Es kann auch noch die aufgeladene Batterie sein an Bord.

Im Laufe der Zeit entwickelt sich das ungünstig und kann dann das ganze Objekt sprengen. Und das erzeugt weitere Trümmer. Diese Explosion muss man abstellen, indem man die restliche Energie nach dem Betrieb entlässt, Treibstoff verbraucht, Batterien entlädt.

Die zweite Maßnahme ist, dass die Raumfahrtobjekte nach dem Betrieb aus eigener Kraft aus dem All verschwinden müssen. Je länger sie im All bleiben, desto wahrscheinlicher wird eine Kollision mit Trümmererzeugung.

Solange das Objekt noch aktiv ist, der Satellit beispielsweise noch Treibstoff enthält und wir ihn kontrollieren können, sollte man ihn mit der restlichen Treibstoffmenge so tief hinab bringen, dass er in der Atmosphäre verglüht.

Wenn wir diese beiden Maßnahmen beherzigen, dann können wir auch das Problem in den Griff bekommen. Leider ist es so, dass wir in den vergangenen Jahren nicht beobachten konnten, dass das ausreichend umgesetzt wird. Die Gründe dafür sind nicht nur schlechter oder böser Wille, das ist teilweise auch mangelnde technische Kapazität.

Crashvermeidung im All

Planet Wissen 04.09.2023 02:42 Min. Verfügbar bis 08.04.2027 SWR

Inwiefern können da international verbindliche Regeln helfen?

Wir sehen heute schon, dass diese Vermeidungsstrategien, die wir umsetzen müssen, in internationalen Standards formuliert sind, aber Standards sind keine verpflichtende Größe. Standards sind Richtlinien, die sind gut harmonisiert weltweit. Was wir brauchen, ist auch harmonisierte Gesetzgebung, idealerweise natürlich eine internationale, die also Nationen übergreifend ist.

So weit wird es allerdings so schnell nicht kommen. Das ist meine Einschätzung. Der Prozess dahin ist sehr langsam. Wir haben heute nationale Regelungen, wo der Versuch unternommen wird, die möglichst stark zu harmonisieren. Aber wirklich weiterbringen würde uns vor allem eine internationale Gesetzgebung. Da sehe ich aber Schwierigkeiten, dass die schnell zu Stande kommen wird.

Die ESA arbeitet mit der "Clear Space1-Mission" an einer technischen Lösung, große Weltraumschrottfragmente aktiv aus dem Orbit entsorgen zu können. Können Sie uns kurz erklären wie funktioniert soll?

Die Clear Space 1 Mission wird die erste Mission sein zum Rückholen eines Raumfahrtschrottobjektes. Das Schrottobjekt, was wir rückholen wollen, ist ein etwa hundert Kilogramm schwerer Raketenadapter, der vor sieben Jahren im All hinterlassen worden ist.

Die Clear Space Mission ist im Grunde ein kleiner Satellit von etwa einer halben Tonne Masse mit vier Roboterarmen. Dieser Satellit wird sich diesem Objekt annähern und mit seinen vier Greifarmen das Objekt umschließen, und zwar möglichst bevor er es an irgendeiner Stelle berührt. Denn jede Berührung im All fördert eine komplizierte Kontaktdynamik zu Stande, die auch rückwirkt auf den Satelliten, das gilt es zu verhindern.

Im Idealfall wir der Clearspace so das Objekt mit seinen Armen einfangen und dann seinen Orbit mit seinem Antriebssystem absenken und das Objekt und sich selber auch gleichzeitig aus dem All entsorgen.

Also ein aktives Entfernen, eine Müllabfuhr, wenn man so will und wir denken, dass wenn wir zeigen, dass das technisch möglich ist, dann werden vielleicht auch einzelne Gesetzgeber auf diese Möglichkeit aufmerksam und dann vielleicht auch ihre Regulierungen nachschärfen und zum Beispiel fordern, dass wenn jemand es versäumt hat, sein Objekt mit eigenen Mitteln zu entsorgen, dass er dann eben so ein Abräumservice, eine Dienstleistung in Anspruch nehmen muss.

Das wäre ideal, denn das würde nicht nur bedeuten, dass jeder sich bemühen muss, gar nicht erst zur Entstehung von Weltraumschrott beizutragen, um direkte Kosten zu vermeiden. Gleichzeitig würde so für die übrig gebliebenen, gestrandeten Objekte eine Art Markt entstehen für solche Abholdienstleistungen.

Sie sind nun schon einige Jahre in der Weltraumtechnologie und Raumfahrt tätig. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft der Raumfahrt?

Wir stehen jetzt schon an einem Wendepunkt. Es sind jetzt Entscheidungen in den nächsten, vielleicht zehn Jahren, die im Prinzip die Entscheidung auch über die Zukunft der Entwicklung im Weltall stellen, also ich sehe überall großes Verständnis für die Problematik. Es gibt niemanden, der sich dieser Problematik verwehrt.

Allerdings müssten auch die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden, was sowohl technische Entwicklung, die wir brauchen, angeht, als auch die rechtliche Weiterentwicklung. Ich sehe, dass viele Dinge in Gang kommen, aber ich sehe auch, dass es sehr lange dauert und da mache ich mir Sorgen, dass wir vielleicht nicht schnell genug sind.


(Erstveröffentlichung: 2022)

Quelle: SWR | Stand: 06.04.2022, 17:00 Uhr

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