Märchenfiguren und Handlung
Sprechende Tiere und Pflanzen, Zwerge, Riesen, Hexen, Feen, Drachen und andere Fabelwesen gehören wie selbstverständlich zu Märchen dazu. Typisch für die Figuren ist, dass sie scharf kontrastiert sind: schön oder hässlich, gut oder böse, tapfer oder feige, schlau oder dumm.
Viele Märchen sind geprägt von besonderen Farben wie Gold und symbolischen Zahlen, zum Beispiel von der Sieben (sieben Raben, Geißlein, Zwerge) oder der Drei (drei Wünsche). Die meisten Geschichten erzählen von der glücklichen Lösung eines Konfliktes. Ein Protagonist erlebt allerlei Abenteuer, Schicksalsschläge oder Läuterungen, um danach gestärkt daraus hervorzugehen.
"Es war einmal": Wurzeln des Märchens
In den schriftlichen Zeugnissen aller frühen Hochkulturen finden sich märchenhafte Züge. Aus dem alten Ägypten sind viele Zauber- und Tiergeschichten überliefert.
Das sumerische Gilgamesch-Epos, das vermutlich im 12. Jahrhundert vor Christus in Mesopotamien entstand und als älteste literarische Dichtung der Welt gilt, weist in vielen Passagen märchenhafte Formen auf.
Die Epen des griechischen Dichters Homer und andere Sagen zeugen vom großen Reichtum an Märchen der alten Griechen.
Indien wird eine vermittelnde Rolle zwischen den sehr alten Erzähltraditionen des Fernen Ostens und des Vorderen Orients zugeschrieben. Für die europäische Märchentradition waren die Beziehungen zum Orient, die über Byzanz und Nordafrika verliefen, von großer Bedeutung.
Kreuzfahrer, Kaufleute, Pilger und Seefahrer brachten Stoff für Märchen mit ins mittelalterliche Europa. Dort sorgten vor allem Spielleute für deren Verbreitung.
Märchen in Europa
Schon im 16. und 17. Jahrhundert schufen die Italiener Giovanni Straparola und Giovanni Battista Basile ganze Märchenzyklen. Die sogenannten Feenmärchen waren im Frankreich des 17. Jahrhunderts sehr beliebt als Unterhaltung für den Adel.
Ab 1704 erschloss die Übersetzung der "Geschichten aus 1001 Nacht" von Antoine Galland neue Märchenwelten. Bereits 1697 hatte Charles Perrault eine französische Märchensammlung vorgelegt, die im 18. Jahrhundert auch in Deutschland erschien. "Dornröschen", "Rotkäppchen" und "Der gestiefelte Kater" gehen nachweislich auf seine Sammlung zurück.
Die Brüder Grimm
Die deutschen Romantiker und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm erfassten den Reiz des mündlich überlieferten Erzählgutes. Sie erkannten darin die schöpferischen Kräfte eines Volkes – einen Kulturschatz, den es zu bewahren galt.
Trotzdem rechneten die Brüder Grimm nicht mit einem wirtschaftlichen Erfolg, als sie die "Kinder- und Hausmärchen" 1812 und 1815 veröffentlichten. Für ihre Märchensammlung hatten sich die Brüder Märchen erzählen lassen und sie Wort für Wort festgehalten.
Die Brüder Grimm weckten durch ihre Sammlung nicht nur das allgemeine Interesse an Märchen, sondern gaben auch den Anstoß zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Märchen.
Die Psychoanalyse
Auch die Psychoanalyse, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, interessierte sich für Märchen. Bedeutsam wurden die tiefenpsychologische Untersuchungen des österreichischen Nervenarztes Sigmund Freud zum Verhältnis von Märchen, Traum und Sexualtrieb.
Der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung und seine Schüler zogen aus Märchen und Mythen Erkenntnisse über die seelischen Grundkonzeptionen der Menschen einer Kultur.
Inzwischen arbeiten vor allem Kindertherapeuten mit Märchen. Sie bearbeiten anhand der zauberhaften Figuren und Konstellationen verdrängte Erlebnisse und Traumata der Kinder.
"Und wenn sie nicht gestorben sind": Märchen heute
Heute stellen Märchen nur ein Angebot unter vielen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur dar. Insofern ist ihre einstmals dominante Stellung gebrochen.
Zumindest in Mitteleuropa gehören die Märchen der Brüder Grimm, von Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff und Ludwig Bechstein aber immer noch zum Grundstein der Kinderliteratur.
(Erstveröffentlichung: 2002. Letzte Aktualisierung: 11.08.2020)