
Psychologie
Jugendgewalt in Deutschland
Jugendliche werden häufiger kriminell auffällig als andere Altersgruppen, insbesondere bei Gewaltdelikten. Dass Jugendliche Grenzen übertreten, gehört zum Erwachsenwerden dazu. Doch Jugendgewalt gilt als Indikator für gesellschaftliche Krisen.
Von Christine Buth
Wachsende Gewaltbereitschaft?
"Jugendgewalt kann als eine Art Fieberkurve der Gesellschaft bewertet werden" sagt das "Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen". Demnach hatte die deutsche Gesellschaft nach der Wiedervereinigung hohes Fieber.
Die Zahl krimineller Jugendlicher in Deutschland stieg zwischen 1993 und 1998 rasant an: um mehr als 50 Prozent auf mehr als 300.000 jugendliche Tatverdächtige pro Jahr. Medien und Forschung suchten nach Erklärungen, die Öffentlichkeit war alarmiert. Jugendgewalt wurde zum ersten Mal als Problem benannt.
Erst nach 1998 gingen die Zahlen gewalttätiger Jugendlicher leicht zurück. Die Dunkelziffer ist hoch. Deshalb ist es schwierig, Aussagen über konkrete Zahlen zu treffen.
Die Statistik zeigt jedoch, dass es einen positiven Trend gibt: Tendenziell geht die Gewaltkriminalität bei Jugendlichen zurück. 2017 gingen knapp 40.000 Körperverletzungsdelikte auf das Konto jugendlicher Staftäter. Das entspricht einem Anteil von 8,5 Prozent gemessen an der Gesamtanzahl aller Körperverletzungsdelikte in Deutschland.
Dennoch hat sich in der Vorgehensweise der Jugendlichen einiges verändert. Die polizeiliche Kriminalstatistik notiert eine "erhöhte Gewaltbereitschaft bei gesunkener Hemmschwelle" und "teilweise brutales Vorgehen".
Viele Regeln, die früher für Prügeleien unter Jugendlichen galten, sind heute anscheinend aufgelöst: Der Kopf ist sehr wohl ein Ziel und es ist längst nicht immer Schluss, wenn das Opfer am Boden liegt und aufgibt.
Warum werden Jugendliche gewalttätig?
Jeder Mensch hat Aggressionen und ist zu Gewalt fähig, darüber sind sich alle Forscher einig. Aber was steckt dahinter, wenn jemand zuschlägt, weil ein anderer blöd guckt? Wann leben Jugendliche ihre Aggressionen aus?
Fest steht: Es gibt kein simples Kausalprinzip mit Ursache und Wirkung, sondern ein ganzes Netz von Risikofaktoren. Klar ist auch: Eine biologische Störung ist selten der Grund, wenn ein Jugendlicher gewalttätig wird.
Ein Risikofaktor ist das Elternhaus. Konflikten mit Gewalt zu begegnen, ist eine Strategie, die Kinder oft von ihren Eltern erlernen. Gewalt wird von Generation zu Generation weitergegeben.
Studien haben gezeigt, dass die Jugendlichen, die besonders häufig als Täter in Erscheinung treten, auch häufiger Opfer von Gewalt sind.
Aggressive Jugendliche haben meist eine geringe Schulbildung und unterdurchschnittliche Noten. Im schulischen Bereich können sie also kaum Anerkennung finden.
Da ihre Zukunftsaussichten ohnehin eher düster sind, wächst das Risiko, dass die Jugendlichen auf einer anderen Ebene um ein starkes Selbstwertgefühl ringen: mit Gewalt. Aggressiven Jugendlichen geht es oft darum, sich Respekt zu erarbeiten – durch die Abwertung von anderen.
Ursachen und Risikofaktoren
Auch eine problematische Wohnsituation kann ein Risikofaktor sein. Mangelnde Sprachkenntnisse, brutale Filme oder Computerspiele, sozialer Neid und Langeweile – all das kann eine negative Wirkung haben.
Der erste starke Anstieg der Jugendgewalt von der Wiedervereinigung bis 1998 wird heute auch mit einem ganzen Bündel von Ursachen erklärt.
Zu den individuellen Problemen der Jugendlichen kamen damals die Beschaffungskriminalität in den Drogenszenen, Jugendarbeitslosigkeit, die mangelnde Integration von ausländischen Jugendlichen, die Entstehung des Internets mit allen Zugriffsmöglichkeiten auf gewalttätige Inhalte und die grundlegende gesellschaftliche Verunsicherung durch den raschen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel.

Das soziale Umfeld hat auf Jugendliche großen Einfluss
Selbstbewusst durch Gewalt
Viele Jugendliche suchen durch Gewalt nach Selbstbestätigung. Sie verteidigen ihre Ehre, verschaffen sich Respekt, demonstrieren Stärke und Durchsetzungsfähigkeit. Sie stellen Hierarchien her. Gewalt vermittelt ihnen das Gefühl von Macht und Überlegenheit. Sie werden zu Herren über ihre Opfer.
Dies gilt nicht nur für körperliche Gewalt, sondern auch für psychische Gewalt, zum Beispiel durch das gezielte Mobbing von Mitschülern.
Gewalttätige Jugendliche beschreiben sich meist als durchsetzungsstark, dominant und selbstbewusst. Im Selbstverständnis der Täter erfordert ihr Verhalten Mut. Erprobten Tätern macht Gewalt oft einfach Spaß. Darum müssen es nicht immer Konflikte sein, die Gewalt auslösen.
Gewalt kann auch zum Selbstzweck werden. Die meisten gewalttätigen Jugendlichen haben kaum Schuldgefühle und sind wenig bereit, ihr Verhalten zu ändern. Auf Vorwürfe reagieren sie mit Rechtfertigungen und Verharmlosungen. Das Opfer hatte Schuld, das Ganze ist irgendwie "dumm gelaufen".

Die Gruppe ist für Jugendliche sehr wichtig
Gewalt als Entwicklungsphase
Das Ende der Gewaltbereitschaft kommt meist von alleine. Mit der Jugend wird in den meisten Fällen auch die Gewalt abgelegt. Aus den meisten Jugendlichen, die eine aggressive Phase durchlaufen, werden später friedliche Erwachsene, die nie wieder auffällig werden.
Die Gewaltspitze liegt bei etwa 16 bis 21 Jahren, danach geht die Gewalt zurück.
Prävention und Jugendarbeit sind natürlich dennoch unverzichtbar. Sie müssen auf vielen Ebenen ansetzen, um ein Klima der Bedrohung zu verhindern, in dem weitere Jugendliche verleitet werden, Gewalt zur vermeintlichen Selbstsicherung anzuwenden.
Ein sichtbarer Erfolg der vergangenen Jahre: Die Bereitschaft jugendlicher Opfer, Gewalttaten anderer Jugendlicher anzuzeigen, ist gestiegen.
(Erstveröffentlichung 2003. Letzte Aktualisierung 31.07.2019)
Quelle: WDR