Ein Vater und ein Kind sitzen auf einem Sofa und schauen auf Tablet und Smartphone.

Psychologie

Die Macht der Gewohnheit

Gewohnheiten sind automatische Programme, die uns im Alltag helfen. Unsere Routinen steuern nicht nur unser Verhalten, sondern auch das Denken und Fühlen – und den Umgang mit anderen und uns selbst.

Von Katrin Ewert

Gewohnheiten lotsen uns durch den Tag

In der ersten Vorlesung des Semesters machte Bas Verplanken ein Foto von seinen Studenten im Hörsaal. Der Professor für Sozialpsychologie an der University of Bath in England brachte die Aufnahme bei der zweiten Sitzung mit und projizierte sie an die Wand – worauf seine Studenten erst mit Verwunderung, dann mit Lachern reagierten: Sie hatten sich auf genau dieselben Plätze gesetzt wie in der Woche zuvor.

Mit dem Mini-Experiment zeigte Verplanken, wie schnell seine Studenten in Verhaltensmuster fallen. "Wir eignen uns in jeder neuen Situation Gewohnheiten an", sagt der Psychologe. "Jeden Tag, in jeder Lebensphase kommen neue hinzu." Die Annahme, dass wir Routinen hauptsächlich in den ersten zehn Lebensjahren erlernen, hält Verplanken für überholt.

Zweifelsohne bilden wir in dieser Etappe wichtige Automatismen, die uns durch den Alltag lotsen. In welches Hosenbein steigen wir zuerst, wenn wir uns anziehen? Wie oft kauen wir auf einem Biss vom Marmeladenbrot herum, bevor wir ihn herunterschlucken? Auf welcher Seite beginnen wir beim Zähneputzen? – Viele solcher Routinen haben wir vermutlich in der Kindheit erlernt und wiederholen sie seitdem jeden Morgen.

Zwei Jungs putzen sich die Zähne

Die Routine des Zähneputzens lernen wir bereits in der Kindheit

Auf diese Art übernehmen unsere Gewohnheiten 30 bis 50 Prozent der täglichen Entscheidungen für uns. Während die routinierten Handlungen im Autopilot-Modus ablaufen, haben wir Zeit, unseren Tag zu planen und wichtige Entscheidungen zu treffen: Wann muss ich mein Kind von der Kita abholen? Sollen wir lieber in ein zweites Auto oder in einen Familienurlaub investieren? 

Die Gewohnheitsschleife: Reiz, Verhalten, Belohnung

"Jede Gewohnheit läuft in dem psychologischen Muster einer Schleife ab", erklärt Verplanken. Zuerst scannt das Gehirn die Umgebung auf einen auslösenden Reiz: Das kann eine typische Alltagssituation oder eine Stimmung wie zum Beispiel Nervosität sein.

Anschließend durchläuft das Hirn die Handlung, die für die Gewohnheit typisch ist: zum Beispiel der Griff nach einer Zigarette. "Bei Erfolg springt das Belohnungssystem des Gehirns an", ergänzt der Sozialpsychologe – Nikotin macht viele Menschen entspannter und versetzt das Gehirn in einen Glückszustand.

Eine Frau sitzt am Laptop und kaut an den Fingernägeln.

Ist das Nägelkauen wirklich eine Verhaltensgewohnheit?

Verhaltensgewohnheiten machen wir uns schnell bewusst – spätestens, wenn Rauchen, ungesunde Ernährung oder Bewegungsmangel unsere Gesundheit belasten. Denk- und Gefühlsgewohnheiten hingegen laufen meist im Verborgenen ab. "Wir haben tausende davon", sagt Verplanken. Die sogenannten "mental habits" sind einer seiner Forschungsschwerpunkte.

Manchmal zeigen sie sich zusammen mit Verhaltensgewohnheiten, so der Experte. Wenn eine Person zum Beispiel als Verhaltensgewohnheit beim Reden mit den Haaren spielt oder bei Präsentationen mit dem Fuß wippt, steckt häufig eine Gefühlsgewohnheit dahinter: In diesen Situationen wird derjenige nervös oder ängstlich.

Denkgewohnheiten spiegeln Einstellungen und Werte wider

Wer glaubt, dass seine Gedanken stets das Ergebnis sorgfältiger Abwägung sind, liegt falsch. "Wir benutzen das rationale Denken so wenig wie möglich", sagt Verplanken. "Unser Gehirn sträubt sich dagegen, weil es Energie kostet."

Stattdessen laufen täglich tausende Denkroutinen ab. Automatisch entscheiden wir, was moralisch richtig und falsch ist, welches Bild wir von uns selbst und anderen haben. Kommt eine neue Person in den Raum, schätzen wir ihn mit unseren Denkmustern automatisch ein. Statt jeden Menschen neu zu bewerten, verfallen wir oft in Stereotype.

Denkgewohnheiten bestimmen aber auch, wie wir unsere eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse einschätzen. Und sie entscheiden darüber, ob man zum Beispiel Ordnung liebt und Pünktlichkeit für wichtig hält.

Vier Personen in Anzügen sitzen an einem Tisch und machen eine Besprechung.

Unsere Denkgewohnheiten bestimmen, wie wir unsere eigenen Fähigkeiten einschätzen

Denkmuster legen fest, ob wir Ablehnung als schlimm empfinden und wie wir mit schlechten Nachrichten oder Schmerz umgehen: Neigen wir zum Beispiel dazu, zu sorgenvoll zu grübeln oder glauben wir fest daran, dass schon morgen alles besser wird? 

"Einige Menschen haben sehr negative Denkgewohnheiten", sagt Verplanken. Der Sozialpsychologe führt das Beispiel von Personen an, denen ihr Aussehen sehr wichtig ist. "Immer wenn sie sich im Spiegel anschauen und unzufrieden mit dem Anblick sind, verfallen sie in negative Gedankenmuster", so der Experte.

Gefühlsgewohnheiten verraten unseren Charakter

Zu einem großen Teil hängen Gefühlsgewohnheiten von unserer Persönlichkeit ab. Sie bestimmen, in welcher Situation wir mit einer bestimmten Emotion reagieren.

Unsere Routinen sind dafür verantwortlich, dass wir beispielsweise immer wieder genervt sind, wenn der Kollege laut telefoniert, dass wir nervös werden, wenn der Chef das Büro betritt oder verärgert, wenn eine Präsentation nicht so funktionierte, wie man es sich vorgestellt hat.

Gefühlsgewohnheiten legen fest, ob wir nervös, ängstlich und zurückhaltend oder selbstbewusst und entspannt in einer neuen Situation sind – wie etwa am ersten Tag eines neuen Jobs.

Warum Gewohnheiten überlebenswichtig und unverzichtbar sind

Gewohnheiten haben einen schlechten Ruf: Sie können immer wieder Stressreaktionen auslösen und rauben Zeit, wenn wir zum Beispiel immer wieder Facebook und Instagram öffnen statt produktiv zu arbeiten.

Sie schaden unserer Umwelt, wenn wir mal wieder beim Einseifen in der Dusche und beim Zähneputzen das Wasser laufen lassen. Sie beeinträchtigen unsere Gesundheit, wenn wir abends mit der Chipstüte in der Hand auf dem Sofa liegen statt ins Fitnessstudio zu gehen.

"Die meisten Gewohnheiten ergeben aber Sinn", sagt Verplanken. "Durch sie können wir in der Komplexität der Welt überhaupt überleben." Unser Gehirn wäre ohne Automatismen an der Flut von Reizen und Situationen heillos überfordert.

Wie wichtig Gewohnheiten für uns sind, zeigt sich bereits in den ersten Lebensjahren: Verhaltensforscher konnten zeigen, dass Kinder, denen Routinen wie etwa feste Esszeiten im Alltag fehlen, später Angst vor neuen und unvorhersehbaren Situationen entwickeln und sich weniger zutrauen.

Nur wer durch Routine wiederholt dieselbe gute Erfahrung macht, entwickelt Vertrauen: Je häufiger ein Kind zum Beispiel das Fahrrad fahren übt, desto weniger Angst hat es vor einem Sturz. Gewohnheiten geben uns ein stabiles Fundament, das uns hilft, in neuen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren.

Ein junges Pärchen liegt auf einem Sofa und küsst sich

Gewohnheiten verhelfen zu engen Beziehungen, die nicht gleich bei jedem Streit zerbrechen

Ähnlich ist es in Beziehungen. Die Bindung zwischen Mutter und Baby wird beispielsweise gestärkt, wenn das Baby regelmäßig Zuwendung und Sicherheit erfährt, indem die Mutter überlebenswichtige Bedürfnisse wie Hunger befriedigt. Psychologen wissen: Je häufiger wir von unserem Partner oder einem Freund bestärkt und getröstet werden, desto mehr Vertrauen und Treue entwickeln wir. Gewohnheiten verhelfen uns also zu festen Beziehungen, die nicht direkt bei einem Streit zerbrechen.

(Erstveröffentlichung 2018. Letzte Aktualisierung 06.11.2020)

Quelle: WDR

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