Marktplatz vor den Tuchhallen in Krakau

Polen

Krakau – ein jüdisches Freilichtmuseum

Im Krakauer Stadtteil Kazimierz gibt es sieben Synagogen, zwei große jüdische Friedhöfe, ein Zentrum für jüdische Kultur sowie zahlreiche Restaurants, in denen koscheres Essen serviert wird. Es gibt nur kaum noch Juden hier. Deshalb wirkt der Ort wie ein Museum.

Von Katrin Lankers

Jüdische Traditionen für Touristen

Das Krakauer Viertel wirke mit seinen jüdischen Gebetshäusern und Straßennamen so, als sollten die Bewohner morgen zurückkehren, heißt es in einer Huldigung an Kazimierz. In Breslau, Lodz oder Warschau wurden zusammen mit den Menschen auch die jüdischen Viertel zerstört. Nicht so im Krakauer Stadtteil Kazimierz.

Freitagsabends trifft sich die Gemeinde in der Remuh-Synagoge zur Vorabend-Feier des Sabbat. Nur noch zwei der sieben Krakauer Synagogen werden für Gottesdienste genutzt: Die "Remuh" freitags und samstags und die Tempel-Synagoge an hohen Feiertagen und für Konzerte. Die anderen Synagogen dienen als Museen und Ausstellungsräume.

Blick in einen Raum: Auf einem Lesepult liegt im Vordergrund ein aufgeschlagenes Buch, dahinter Bänke, Bücherregale und ein Thora-Schrein.

In der Remuh-Synagoge wird Glauben noch gelebt

Bereits 1335 ließen sich die ersten Juden in der von König Kasimir gegründeten und nach ihm benannten Stadt Kazimierz nieder, die zu diesem Zeitpunkt noch selbstständig war. Im Westen waren sie im Mittelalter Antisemitismus und Pogromen ausgesetzt. In Polen herrschte hingegen keine Atmosphäre des Judenhasses.

Im 15. Jahrhundert schlug die Stimmung jedoch um. König Jan Olbracht nahm schließlich den Brand von Krakau zum Vorwand und verjagte die Juden 1495 aus der Stadt ins nahe Kazimierz. Rund um die "ulica Szeroka", die Weite Straße, ließen sie sich nieder. Heute stehen zahlreiche Cafés an der Straße, die eigentlich ein Platz ist.

Die Speisekarten sind in mehreren Sprachen abgefasst, es gibt "gefilte Fisch" und andere typisch jüdische Spezialitäten, die Kellner sprechen alle Englisch. Die Dekoration reicht von Gemälden alter bärtiger Juden bis hin zu siebenarmigen Leuchtern.

In den angrenzenden Läden werden jüdische Literatur und Alltagsgegenstände verkauft. Abends werden jüdische Folklore und Klezmer-Musik angeboten. Jüdische Traditionen für den internationalen Tourismus aufbereitet.

Klezmermusiker mit Akkrodeon

Abends wird in den Bars Klezmermusik gespielt

Touren auf Schindlers Spuren

Das Interesse an Kazimierz ist groß, besonders seit Steven Spielberg hier Teile seines Films "Schindlers Liste" drehte. Lokale Anbieter veranstalten Touren auf Schindlers Spuren. Sie führen die Touristen an die Drehorte von Spielbergs Film ebenso wie an die historischen Stätten. Denn wer die Originalschauplätze sehen will, ist in Kazimierz falsch. Dafür muss man über die Weichsel gehen, in den Stadtteil Podgórze.

1941 wurde das Viertel auf Anordnung des Generalgouverneurs Hans Frank zum jüdischen Ghetto erklärt. Drei Meter hohe Mauern begrenzten das Areal, das gerade mal 15 Straßen umfasste. Bis zu 18.000 Menschen lebten hier gleichzeitig.

Im März 1943 wurde das Ghetto aufgelöst, die Menschen in die Konzentrationslager (KZ) Plaszów und Auschwitz verschleppt oder sofort ermordet. Ein Denkmal erinnert auf dem sogenannten Umschlagplatz an die Juden im Krakauer Ghetto: 70 leere Stühle aus Bronze.

Nur wenige Schritte davon entfernt steht Oskar Schindlers Fabrik. Die Geschichte des ungewöhnlichen Helden ist durch den Oscar-gekrönten Film hinlänglich bekannt: Ein deutscher Industrieller beschäftigt Juden als Zwangsarbeiter in seiner Emaillefabrik und rettet mehr als tausend von ihnen vor dem sicheren Tod.

Der Schauplatz heute: ein eher unscheinbares Fabrikgebäude. Eine kleine Ausstellung erinnert an die historischen Ereignisse, wegen derer täglich zig Besucher hierher kommen. Vom Konzentrationslager Plaszów ist nur noch ein Eingangstor übrig. Spielberg ließ das KZ für seinen Film komplett nachbauen, die Bühnenbildner erhielten einen Oscar.

Szene aus dem Film "Schindlers Liste"

Der Film "Schindlers Liste" sorgt für einen touristischen Aufschwung

Gedenken an das Grauen

Nicht nur die Spuren jüdischen Lebens sind in Krakau und seiner Umgebung allgegenwärtig. Man stößt auch überall auf Spuren der Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Nur etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt befindet sich die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Es gibt organisierte Tagestouren im klimatisierten Reisebus, aber auch ganz normale Linienbusse, die den Ort Oświęcim anfahren.

"Komm zu mir, du glücklicher Bürger der Welt, der dort in einem Land lebt, in dem es nur Glück und Freude gibt. (…) Ich werde dir erzählen und dir zeigen, wie und mit welchen Mitteln Millionen eines demütigen Volkes vernichtet wurden." So beginnen die geheimen Aufzeichnungen des Salman Gradowski, Häftling im Konzentrationslager Auschwitz.

Gradowski und fünf weitere Gefangene hielten ihre Erlebnisse in Schriftrollen fest, die sie auf dem Gelände des KZ vergruben – detaillierte Berichte über die Todesindustrie der Nazis.

Mehr als 500.000 Menschen besuchen die Gedenkstätte pro Jahr. Eine Überlebende hat einmal gesagt: "Nichts, was Sie gehört oder gelesen haben, nichts, was Sie sich vorstellen, kommt dem nahe, was es war."

Das Grauen ist nicht begreifbar, auch wenn es überall in den Baracken greifbar erscheint. Berge von Koffern, Schuhen, Brillen, Haaren. Die Enge der Räume, in denen Dutzende Menschen zusammengepfercht waren. Die Weite des leeren Platzes vor der Todeswand, an der Häftlinge erschossen wurden.

Und dann die Bilder: Porträts von Jungen und Alten, Männern, Frauen und Kindern säumen die Gänge. Darunter die Daten ihrer Ankunft in Auschwitz und ihres Todestages. Oft liegen nur wenige Wochen oder Monate dazwischen. Mehr als eine Million Menschen kamen hier ums Leben.

Es ist kein Wunder, dass es in Oświęcim nur wenige Restaurants und kaum Hotels gibt. Freizeit oder Erholung erscheinen unmöglich in der unmittelbaren Nähe zu einer solchen Stätte.

Bahngleise führen auf eine Toreinfahrt im Hintergrund zu.

Bahngleise zum Vernichtungslager Birkenau

Besucher tanzen in den Straßen

Unterhaltung und Vergnügen – das findet man in Kazimierz. Beim jüdischen Kulturfestival, das jedes Jahr im Sommer stattfindet, tanzen Besucher aus der ganzen Welt zu Klezmer-Musik in den Straßen.

Zahlreiche Kneipen gibt es in dem Stadtteil, der nach dem Krieg jahrzehntelang einen schlechten Ruf hatte. Denn nachdem die Juden ins Ghetto getrieben worden waren, zogen die armen Leute von Podgórze in deren leerstehende Häuser. Und nach dem Krieg überließ die kommunistische Stadtverwaltung das Viertel sich selbst.

Heute steckt es wieder voller Leben. Die Revitalisierung jüdischer Kultur ging längst nicht immer von den Juden aus. Die Neugier auf jüdische Kultur und Traditionen hat mittlerweile auch viele nicht-jüdische Polen gepackt.

Die "Stiftung Judaica" etwa wurde 1991 von einer Gruppe gegründet, die die Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur als Test für die bürgerliche und menschliche Solidarität begreift. Sie betreibt ein für alle offen stehendes Zentrum für jüdische Kultur und organisiert kulturelle Veranstaltungen.

Jüngere Menschen zeigen eine Faszination für die untergegangene Kultur ihrer Stadt. Junge Juden finden zu ihrem Glauben. Einige wussten jahrelang nichts von den jüdischen Ursprüngen ihrer Familie. Im Kommunismus hatten es die Juden in Polen schwer. Die "antizionistische Säuberung" trieb Tausende von ihnen Ende der 1960er Jahre zur Auswanderung.

Dass nach dem Filmerfolg von "Schindlers Liste" alles Jüdische in Krakau wieder angesagt ist, hat auch Kritiker auf den Plan gerufen. Der Spielberg-Tourismus behagt nicht allen. Die Sorge: Nachdenklichkeit lässt sich nicht in einem jüdischen Disneyland fördern.

Andererseits: Das Interesse der Touristen und vor allem das Geld, das sie bringen, können auch helfen. Beim Erhalt des Viertels und der Bewahrung der jüdischen Kultur von Kazimierz.

(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 15.06.2020)

Quelle: WDR

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