Palmen am Luganer See, Blick von Morcote.

Mitteleuropa

Tessin

Das Tessin ist ein Kanton in der Schweiz und eine beliebte Urlaubsregion – mit Palmen, Alpengipfeln und tiefblauen Seen. Früher galt die Region als äußerst arm. Doch nach der Eröffnung des Gotthard-Eisenbahntunnels 1882 kamen die Touristen in Scharen.

Von Ulrich Neumann und Cordula Weinzierl

Schweizer Kanton mit italienischer Sprache

Das Schweizer Kanton Tessin grenzt im Norden an die Kantone Wallis, Uri und Graubünden, im Süden an die italienische Lombardei. Mit 3402 Metern ist das Rheinwaldhorn (italienisch: Adula) der höchste Tessiner Berg.

Nach der Kantonsgründung 1803 wechselte zunächst alle sechs Jahre der Regierungssitz zwischen Bellinzona, Lugano und Locarno. Seit 1878 ist Bellinzona Kantonshauptstadt und Regierungssitz.

Während Lugano vor allem als Finanzplatz bekannt ist, sind Locarno und Ascona wichtige Zentren des Tourismus. Auf einer Fläche von rund 2800 Quadratkilometern leben etwa 358.000 Tessiner (Stand: 2023).

Die Amtssprache ist Italienisch. Etwas mehr als acht Prozent der Bevölkerung geben Deutsch als ihre Muttersprache an.

Die "Sonnenstube"

Das milde Klima hat dem Tessin den Ruf der Schweizer Sonnenstube eingebracht. Kalte Luftmassen aus dem Norden werden von den Alpen weitgehend zurückgehalten, sodass sich das warme Mittelmeerklima bis ins Tessin ausbreiten kann.

Die Bewohner von Locarno werden von der Sonne besonders verwöhnt: Im Durchschnitt gibt es hier gerade einmal 100 Regentage pro Jahr (zum Vergleich: in Zürich sind es 160) und die Sonne scheint im Schnitt 2300 Stunden pro Jahr (Zürich: 1878 Stunden).

Blick auf das Zentrum Asconas mit Pfarrkirche und den See.

Schneebedeckte Gipfel und Palmen im Tessin

Rund um die Tessiner Seen herrscht ein sogenanntes insubrisches Klima. Der Name kommt aus dem Keltischen und beschreibt ein Klima mit nur geringen Temperaturschwankungen und ergiebigen, mitunter auch gewittrigen sommerlichen Niederschlägen.

Diese Unwetter können allerdings auch katastrophale Folgen haben. Nach heftigen Regenfällen stand zum Beispiel im Oktober 2000 die Piazza von Locarno unter Wasser und die Bevölkerung musste sich in Booten fortbewegen.

Der kürzeste Weg führt durch den Gotthard

Das Tessin lässt sich über den 2106 Meter hohen Gotthardpass erreichen. Doch auch durch den Berg hindurch führt ein Weg: 1882 wurde der 15 Kilometer lange Gotthard-Eisenbahntunnel fertiggestellt, der den Ort Göschenen im Kanton Uri mit dem Ort Airolo auf Tessiner Seite verbindet. Der Pkw- und Lkw-Verkehr geht durch den 1980 eröffneten 17 Kilometer langen Gotthard-Straßentunnel.

Einfahrt in den Gotthardtunnel

Der Gotthard-Straßentunnel wurde von 1970 bis 1980 gebaut

2016 wurde der Gotthard-Basistunnel eingeweiht, der das Gotthard-Massiv in Nord-Süd-Richtung unterquert. Mit 57 Kilometern ist er der längste Eisenbahn-Tunnel der Welt.

Die Hochgeschwindigkeitszüge erreichen auf dieser Strecke eine Geschwindigkeit von 200 bis 250 Kilometern pro Stunde. Sie verkürzen die Reisezeit zwischen Zürich und Mailand im Vergleich zur alten Strecke um eine Stunde: auf zwei Stunden 40 Minuten.

Vom Armenhaus zum Grand Hotel

Mit der Fertigstellung des ersten Eisenbahntunnels durch den Gotthard veränderten sich die Lebensbedingungen der Tessiner Bevölkerung deutlich. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Tessin aufgrund seiner schlechten Verkehrsanbindung eine sehr unterentwickelte Region.

Ascona, Locarno und Lugano waren um 1900 noch arme Dörfer. Die Bevölkerung in den Tälern konnte sich kaum von dem ernähren, was der felsige Boden hergab. Ackerbau und Viehzucht waren auf den steilen Hängen kaum möglich, und so kam es immer wieder zu großen Hungersnöten.

Die Gotthard-Eisenbahn brachte die Wende. Der Bau der Schienenstrecke schuf unzählige Arbeitsplätze beim Tunnelbau. Innerhalb kurzer Zeit entstanden Industriestandorte entlang der Bahnlinie. Das Tessin hatte den Anschluss gefunden an das Zeitalter der Industrialisierung.

Touristen auf der Piazza Grande in Locarno

Touristen auf der Piazza Grande in Locarno

Auch der Tourismus kam durch die Gotthardbahn in Schwung. Reisende aus Deutschland, Russland, Frankreich, Österreich und England kamen nun ins Tessin, um hier bei angenehmen Temperaturen den Sommer zu genießen. Auch die die englische Königin Viktoria verbrachte hier ihre Ferien.

Um die Schönen und Reichen standesgemäß unterzubringen, entstanden bald große Hotels. Heute ist so manche der pompösen Immobilien allerdings renovierungsbedürftig.

Das Tessin als Zufluchtsort

"Die Schweiz ist ein Land, das berühmt dafür ist, dass Sie dort frei sein können. Sie müssen aber Tourist sein", notierte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht in seinem Text "Flüchtlingsgespräche". Brecht hatte 1933 nach der Machtübernahme der Nazis Deutschland verlassen und lebte auf Einladung von Schriftstellerkollegen am Luganer See.

Viele Intellektuelle, Künstler, politisch Verfolgte und vor allem Menschen jüdischen Glaubens versuchten damals in die neutrale Schweiz zu fliehen. Lange Zeit galt die Schweizer Asylpolitik als vorbildlich. Dieses Image ist inzwischen ins Wanken geraten.

Spätestens ab 1933 wurden Asylgesuche und Aufenthaltsgenehmigungen immer häufiger abgelehnt. Prominente Schriftsteller wie Thomas Mann hatten es leicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, aber arm dran war, wer als Namenloser einen Zufluchtsort suchte.

Schwarzweiß-Foto: Thomas Mann vor seinem Schreibtisch stehend, in der Hand ein Blatt Papier, im Hintergrund Bücherwände.

Thomas Mann flüchtete 1933 in die Schweiz

An der Grenze müssen sich damals dramatische Szenen abgespielt haben. Wer die Grenze passieren durfte, der musste sich oft mit dem Status der "Duldung" zufriedengeben. Anderen erleichterte ein ärztliches Attest die Einreise.

So konnte der von den Nationalsozialisten verfolgte Maler und Graphiker Paul Klee einreisen, weil ihm ein verschlepptes Lungenleiden bescheinigt wurde und er sich zur Behandlung in ein Schweizer Sanatorium begeben wollte.

Viele Emigranten und Flüchtlinge kamen damals ohne Geld oder Besitz in die Schweiz und waren auf die Unterstützung von Freunden und Kollegen angewiesen. Sie alle mussten aber in regelmäßigen Abständen um die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung bangen.

Ab 1942 wurde diese dann immer häufiger abgelehnt. Erschwerend kam hinzu, dass die "Geduldeten" mit einem Arbeitsverbot belegt waren und es ihnen dadurch erschwert wurde, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

(Erstveröffentlichung 2011. Letzte Aktualisierung 01.10.2024)

Quelle: SWR

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