Palmen am Luganer See, Blick von Morcote.

Mitteleuropa

Tessin

Das Tessin ist die Schweizer Sonnenstube und ein Sehnsuchtsort mit mediterranem Flair. Dabei galt die Region früher als das Armenhaus der Schweiz. Das änderte sich erst 1882 mit der Inbetriebnahme des Gotthard-Eisenbahntunnels – danach kamen die Touristen in Scharen.

Von Ulrich Neumann und Cordula Weinzierl

Schweizer Kanton mit italienischer Sprache

Die Geschichte des Schweizer Kantons Tessin beginnt erst 1803 mit der von Napoleon Bonaparte diktierten Mediationsverfassung. Die Schweizer Eidgenossenschaft bestand danach aus einem föderativen Staatenbund mit insgesamt 19 gleichberechtigten Kantonen. Der neue Kanton südlich des Gotthards erhielt seinen Namen "Tessin" nach dem Fluss Ticino.

Das Tessin grenzt im Norden an die Kantone Wallis, Uri und Graubünden, im Süden an die italienische Lombardei. Mit 3402 Metern ist das Rheinwaldhorn (italienisch: Adula) der höchste Tessiner Berg. Nach der Kantonsgründung 1803 wechselte zunächst alle sechs Jahre der Regierungssitz zwischen Bellinzona, Lugano und Locarno. Seit 1878 ist Bellinzona Kantonshauptstadt und Regierungssitz.

Während Lugano sich vor allem als Finanzplatz einen Namen gemacht hat, haben Locarno und Ascona vor allem als touristische Zentren Bedeutung erlangt. Auf einer Fläche von 2811 Quadratkilometern leben 2019 über 353.000 Tessiner. Die Amtssprache ist Italienisch. Etwas mehr als acht Prozent der Bevölkerung geben Deutsch als ihre Muttersprache an.

Die Schweizer Sonnenstube

Das milde Klima hat dem Tessin den Ruf der Schweizer Sonnenstube eingebracht. Kalte Luftmassen aus dem Norden werden von der Alpenkette weitgehend zurückgehalten, sodass sich das warme Mittelmeerklima bis ins Tessin ausbreiten kann. Mit gerade einmal 100 Regentagen (Zürich 160) und 2300 Sonnenstunden (Zürich 1878) werden die Bewohner von Locarno von der Sonne besonders verwöhnt.

Blick auf das Zentrum Asconas mit Pfarrkirche und den See.

Schneebedeckte Gipfel und Palmen im Tessin

Im Einzugsbereich der Tessiner Seen herrscht ein sogenanntes insubrisches Klima. Der Name ist keltischen Ursprungs und kennzeichnet ein Klima mit nur geringen Temperaturschwankungen und ergiebigen, mitunter auch gewittrigen sommerlichen Niederschlägen.

Diese Unwetter können durchaus auch katastrophale Folgen haben. Unvergessen ist bis heute, wie nach heftigen Regenfällen im Oktober 2000 die Piazza von Locarno unter Wasser stand und die Bevölkerung sich in Booten fortbewegen musste.

Der kürzeste Weg führt durch den Gotthard

Über den 2106 Meter hohen Gotthardpass muss heute keiner mehr fahren. 1882 wurde der 15 Kilometer lange Gotthard-Eisenbahntunnel fertiggestellt, der den Ort Göschenen im Kanton Uri mit dem Ort Airolo auf Tessiner Seite verbindet. Der Pkw- und Lkw-Verkehr geht durch den 1980 eröffneten 17 Kilometer langen Gotthard-Straßentunnel.

Einfahrt in den Gotthardtunnel.

Von 1970 bis 1980 wurde der Gotthard-Strassentunnel gebaut

Im Juni 2016 wurde der Gotthard-Basistunnel, der das Gotthard-Massiv in Nord-Süd-Richtung unterquert, eingeweiht. Mit 57 Kilometer ist er der längste Eisenbahntunnel der Welt. Da es nur geringfügige Höhenunterschiede zwischen den jeweiligen Endpunkten Erstfeld beziehungsweise Bordio gibt, verkehren auf dieser Strecke Hochgeschwindigkeitszüge mit 200 bis 250 Kilometern pro Stunde. Sie verkürzen die Reisezeit zwischen Zürich und Mailand um eine Stunde auf zwei Stunden 40 Minuten.

Vom Armenhaus zum Grand Hotel

Mit der Fertigstellung des ersten Eisenbahntunnels durch den Gotthard veränderten sich die Lebensbedingungen der Tessiner Bevölkerung von Grund auf. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Tessin aufgrund seiner schlechten Verkehrsanbindung eine sehr unterentwickelte Region.

Touristen bevölkern den Piazza Grande in Locarno.

Touristen bevölkern den Piazza Grande in Locarno

Ascona, Locarno und Lugano waren um 1900 noch armselige Dörfer. In den Tälern lebte eine rückständige Bevölkerung, die sich kaum von dem ernähren konnte, was der karge, felsige Boden hergab. Ackerbau und Viehzucht waren auf den steilen Hängen kaum möglich, und so kam es immer wieder zu großen Hungersnöten.

Mit dem Bau der Gotthard-Eisenbahn kam die Wende. Der Bau der Schienenstrecke schuf unzählige Arbeitsplätze beim Tunnelbau. Innerhalb kurzer Zeit entstanden Industriestandorte entlang der Bahnlinie. Das Tessin hatte den Anschluss gefunden an das Zeitalter der Industrialisierung.

Die Gotthardbahn förderte allerdings noch einen zweiten Wirtschaftszweig, den Tourismus. Reisende aus Deutschland, Russland, Frankreich, Österreich und England kamen nun ins Tessin, um hier bei angenehmen Temperaturen die Sommerfrische zu genießen.

Die Schönen und Reichen sollten standesgemäß untergebracht werden. So entstanden die Grand Hotels der Belle Epoque. Heute sind die pompösen Immobilien Sanierungsfälle. Gut möglich, dass dort, wo einst die englische Königin Viktoria ihre Ferien verbrachte, schon bald teure Eigentumswohnungen zum Verkauf angeboten werden.

Das Tessin als Zufluchtsort

"Die Schweiz ist ein Land, das berühmt dafür ist, dass Sie dort frei sein können. Sie müssen aber Tourist sein", schreibt Bertolt Brecht mit ironischem Unterton in den "Flüchtlingsgesprächen". Brecht hatte nach dem Reichstagsbrand Deutschland verlassen und lebte im Mai 1933 auf Einladung von emigrierten Schriftstellerkollegen in Carona am Luganer See.

Viele Intellektuelle, Künstler, politisch Verfolgte und vor allem Menschen jüdischen Glaubens versuchten damals in letzter Minute in die neutrale Schweiz zu gelangen. Lange Zeit galt die Schweizer Asylpolitik als vorbildlich. Dieses Image ist inzwischen ins Wanken geraten.

Spätestens ab 1933 wurden Asylgesuche und Aufenthaltsgenehmigungen immer häufiger abgelehnt. Prominente Schriftsteller wie Thomas Mann hatten es leicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, aber arm dran war, wer als Namenloser einen Zufluchtsort suchte.

An der Grenze müssen sich damals dramatische Szenen abgespielt haben. Wer die Grenze passieren durfte, der musste sich oft mit dem Status der "Duldung" zufriedengeben. Anderen erleichterte ein ärztliches Attest die Einreise. So konnte der von den Nationalsozialisten verfolgte Maler und Graphiker Paul Klee einreisen, weil ihm ein verschlepptes Lungenleiden bescheinigt wurde und er sich zur Behandlung in ein Schweizer Sanatorium begeben wollte.

Viele Emigranten und Flüchtlinge kamen damals mittellos in die Schweiz und waren auf die Unterstützung von Freunden und Kollegen angewiesen. Sie alle mussten aber in regelmäßigen Abständen um die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung bangen.

Ab 1942 wurde diese dann immer häufiger abgelehnt. Erschwerend kam hinzu, dass die "Geduldeten" mit einem Arbeitsverbot belegt waren und es ihnen dadurch erschwert wurde, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Quelle: SWR | Stand: 27.05.2020, 15:00 Uhr

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