Blick durch Gebetsfahnen auf den Roten Berg in Lhasa

Asien

Tibet

Jahrhundertelang stand Tibet unter dem Einfluss und Schutz mongolischer und chinesischer Dynastien, blieb jedoch weitgehend selbstständig. Heute kämpfen die Tibeter gegen die Unterdrückung durch China. Ihr geistliches Oberhaupt Dalai Lama lebt seit 1959 im Exil.

Von Gregor Delvaux de Fenffe und Martina Frietsch

Tibets Annexion durch China

1911 endete nach mehr als 2000 Jahren in China die Kaiserzeit, wenig später wurde die Republik China gegründet. Tibet erklärte sich direkt nach dem Sturz der Qing-Dynastie (auch: Mandschu-Dynastie) für unabhängig und blieb dies bis 1951.

China war nach der Gründung der Republik von Kriegen und einem zwei Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg geprägt. Mit dem Sieg der Kommunistischen Partei Chinas unter Mao Zedong und der Gründung der Volksrepublik 1949 änderte sich für die Tibet die Lage, denn Mao hatte bald nach der Machtergreifung die "Heimkehr Tibets ins chinesische Mutterland" zu einem seiner politischen Ziele erhoben.

Im Oktober 1950 fiel die chinesische Volksbefreiungsarmee in Tibet ein, um die "friedvolle Befreiung Tibets" zu bewirken, so die offizielle Formulierung. Tatsächlich marschierten 80.000 Soldaten Maos in Tibet ein und annektierten das Land.

Tibet hatte der chinesischen Waffengewalt nichts entgegenzusetzen und musste Verhandlungen mit China aufnehmen. Sie mündeten im "17-Punkte-Abkommen", das das tibetische Oberhaupt, der Dalai Lama, nur widerwillig unterzeichnete.

Dieses Abkommen sicherte China die volle Souveränität über die tibetischen Gebiete zu sowie die Stationierung von Truppen. China garantierte im Gegenzug regionale politische Autonomie und die Klerusherrschaft sowie religiöse, kulturelle und weitgehende politische Freiheiten.

Beginn der Unterdrückung Tibets

In den 1950er-Jahren griff China massiv in das politische Leben Tibets ein. In großer Zahl wurden chinesische Bauern in Tibet angesiedelt. Eine neue Steuerpolitik sowie Eingriffe in die Sozialstruktur und althergebrachte Kultur des Landes führten zu Unruhen und massiven Protesten seitens der Bevölkerung. Im Jahr 1958 bildete sich eine tibetische Guerilla heraus, die offen gegen die chinesischen Unterdrücker operierte.

Als der Dalai Lama sich weigerte, den tibetischen Freischärlern Einhalt zu gebieten, drohten die Chinesen ihn festzusetzen. Gerüchte über seine Entführung nach Peking lösten am 10. März 1959 einen Volksaufstand in Tibet aus, der von den Chinesen blutig niedergeschlagen wurde.

Gegen die chinesische Besatzung: Der Aufstand der Tibeter

WDR Zeitzeichen 10.03.2024 14:45 Min. Verfügbar bis 11.03.2099 WDR 5


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Dem Dalai Lama gelang die Flucht nach Indien, wo er am 30. März 1959 ankam. Seither lebt er in Indien im Exil und versucht von dort aus, politisch und religiös auf Tibet einzuwirken.

Nach chinesischen Angaben waren 87.000 Tibeter bei den Unruhen umgekommen und weitere 80.000 nach Indien, Nepal und Bhutan geflohen. China setzte nun zu groß angelegten politischen "Säuberungen" an. Der Kommunismus wurde zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben, die traditionellen Klassenstrukturen in Tibet aufgelöst.

Verheerend waren die Eingriffe ins religiöse Leben. Der tibetische Buddhismus wurde unterdrückt, Mönche und Nonnen bedrängt und verhaftet. Es begann die Zeit der offenen Unterdrückung Tibets.

Schwarzweiß-Bild: Chinesische Soldaten marchieren im tibetischen Hochland.

1950 marschierte Chinas Armee in Tibet ein

Die Auswirkungen der Kulturrevolution

Als Mao Zedongs Macht in der kommunistischen Partei aufgrund gravierender politischer Fehler zu schwinden begann, löste er Ende 1965 die "Große Proletarische Kulturrevolution" aus. Sie war eine Bewegung, die den kommunistischen Klassenkampf radikalisierte und Mao die Macht sichern sollte.

Mittels gleichgeschalteter Jugendverbände, den berüchtigten "Roten Garden", begann Mao einen bürgerkriegsartigen Feldzug gegen die sogenannte "bürgerlich-reaktionäre Linie". Millionen von etablierten Funktionären und Intellektuellen fielen der Denunziation, Folter und Mord zum Opfer. Den "Vier Alten" wurde der Krieg erklärt: Alte Ideen, alte Kulturen, alte Gewohnheiten und alte Sitten sollten systematisch ausgelöscht werden – auch in Tibet.

Mao 1969 während der Feiern zum zwanzigjährigen Bestehen der Volksrepublik China. Er trägt eine Uniform. Auf der Mütze prangt ein roter Stern. Er klatscht in die Hände.

Mao Zedong knechtete das tibetische Volk

Massenmorde in Tibet

In den Jahren 1966 bis 1969 fielen die Chinesen mit unermesslicher Zerstörungswut über das Land Tibet und seine jahrtausendealte Kultur her. Der Terror der Kulturrevolution erfasste Land und Menschen, Gebäude und Traditionen. 6500 Tempel und Klöster wurden geplündert, gebrandschatzt und bis auf die letzten Fundamente zerstört. Etwa 1,2 Millionen Tibeter starben – auch Mönchen und Nonnen wurden gefoltert und ermordet.

Etwa 80 Prozent der buddhistischen Stätten wurden vernichtet, mehr als 90 Prozent der Mönche und Nonnen an der Religionsausübung gehindert. Für Tibet bedeuten die Jahre der Kulturrevolution von 1966 bis 1969 ein bis heute unauslöschliches, noch lange nicht aufgearbeitetes Trauma.

Jahre der Stagnation

Erst mit dem Tod Maos 1976 kam auch Tibet etwas zur Ruhe. Unter den Reformen seines Nachfolgers Deng Xiaoping begann eine langsame wirtschaftliche Liberalisierung Tibets. Allmählich wurden auch einheimische Kräfte in Führungspositionen zugelassen, die Industrialisierung und Infrastruktur wurden ausgebaut, Bildungsmöglichkeiten für Tibeter erweitert.

Das Land wurde 1985 für den Massentourismus geöffnet, was zu einem halbherzigen Wiederaufbau einiger Klöster und Kulturdenkmäler Tibets führte.

Nach vier Jahrzehnten der Unterdrückung kam es zwischen 1987 und 1989 erneut mehrfach zu Unruhen im Land, die jedes Mal mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Im Jahr 1989 verhängten die chinesischen Machthaber sogar das Kriegsrecht über Lhasa.

Seit 1988 fordert der Dalai Lama nicht mehr die Unabhängigkeit Tibets, sondern nur noch eine weitergehende Autonomie. Verhandlungen mit China scheiterten jedoch mehrfach, auch an der Frage der Grenzen Tibets. Während China den derzeitigen autonomen Status nur für die Provinz Tibet beibehalten will, verlangen die Tibeter die Autonomie auch für die historischen tibetischen Siedlungsgebiete in den angrenzenden Provinzen.

Blick von oben auf einen Panzer, der über eine Straße in Lhasa fährt.

Die chinesische Armee ist allgegenwärtig

Unabhängigkeit Tibets: völkerrechtlich umstritten

Bis heute ist es umstritten, ob Tibet als souveräner Staat anzusehen ist oder nicht. Nach der Unabhängigkeitserklärung von 1911 wurde Tibet durch andere Staaten nicht anerkannt. Gegen die militärische Eroberung durch China im Jahr 1950 gab es international kaum Protest – dies allerdings eher aus politischen Gründen, um nicht das wichtige China zu verärgern.

China verweist darauf, dass Tibet bereits ab dem 14. Jahrhundert zu China gehörte. Die Tibeter argumentieren mit der Staatsgründung von 1911. Außerdem begründeten die jahrhundertelangen Beziehungen zwischen China und Tibet keine Gebietsansprüche Chinas. In der Zeit der Mandschu-Dynastie ab dem 18. Jahrhundert war der Dalai Lama spiritueller Mentor des jeweiligen Kaisers; dafür gewährte der Kaiser den Tibetern Schutz.

Die Tibeter werden zur Minderheit

Ein Ende der leidvollen Geschichte Tibets ist auch heute noch nicht abzusehen. Aufgrund der durchweg positiven Wahrnehmung Tibets im Ausland ist die Unterdrückungspolitik Chinas subtiler geworden. Mittlerweile siedeln sich in Tibet so viele Chinesen an, dass die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land werden. Verstärkt wird die Zuwanderung durch die Anbindung Tibets ans nationale chinesische Eisenbahnnetz seit 2006.  

Die Exiltibeter bewerten die massive Einwanderungspolitik Chinas als schleichenden Völkermord am tibetischen Volk. Die eingewanderten Chinesen verfügen über das größere Bildungspotenzial und besetzen auch weiterhin die Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft.

Das religiöse Leben in Tibet wird auch heute streng überwacht, die Anzahl der buddhistischen Klöster, Mönche und Nonnen auf ein Mindestmaß begrenzt. Seit Mitte der 1990er-Jahre verschärft China den Ton gegenüber dem Dalai Lama. Besitz und Verbreitung von Bildern des Dalai Lama sind in Tibet verboten.

Menschenrechtsverletzungen an Tibetern und Übergriffe gegen buddhistische Mönche und Nonnen sind auch weiterhin an der Tagesordnung. Der Landbesitz der tibetischen Klöster wurde verstaatlicht.

Drei Tibeter in Tracht: Links eine junge Frau, in der Mitte ein Baby, rechts eine sehr alte Frau.

Minderheit im eigenen Land

Verlust der Identität

Nach mehr als einem halben Jahrhundert blutiger Auflehnung gegen das generelle Religionsverbot und die politische Unterdrückung droht der tibetischen Kultur auch Gefahr durch eine zunehmende Verweltlichung. Dafür verantwortlich ist einerseits der konsumorientierte Zeitgeist, der von China nach Tibet schwappt, andererseits die Lähmung des tibetischen Volkes, das unter Massenarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und den Folgeerscheinungen Alkoholismus, Drogenkonsum und Prostitution leidet.

Besonders die nachkommenden tibetischen Generationen verlieren den Bezug zu ihren Wurzeln. Der Zugang zur eigenen Kultur und das Interesse am tibetischen Buddhismus nehmen kontinuierlich ab, immer weniger Tibeter beherrschen ihre eigene Sprache.

Neben die schleichende, aber offenkundige Zerstörung der tibetischen Kultur tritt der ökologische Raubbau am Land. Die Uniformität einfallsloser Betonbauweise prägt zunehmend die Architektur der Städte. Rücksichtslos betriebener Tagebau, die Verkarstung großer Landstriche und die großflächige Abholzung ohne Wiederaufforstung haben zu irreparablen Schäden in der einzigartigen Landschaft Tibets geführt.

Seit 2019 baut China Berufsausbildungs- und Arbeitstransferprogramme in Tibet aus. Mit ihnen soll offiziell vor allem die Armut bekämpft werden. Allerdings dienen die Programme auch der Assimilationspolitik der chinesischen Zentralregierung. Ausgebaut wird auch das rigorose Überwachungssystem mithilfe von Datenbanken und engmaschiger sozialer Kontrolle. Die Exilregierung sieht hier Parallelen zur Unterdrückung der anderen großen Minderheit im Land, den Uiguren.

Wie der Dalai Lama befürchten auch viele Tibeter langfristig den Untergang der tibetischen Kultur und den Verlust der tibetischen Identität.

Exilregierung im indischen Dharamsala

In Tibet selbst lebten im Jahr 2018 rund 6,3 Millionen Tibeter, gut die Hälfte von ihnen in der Provinz Tibet, die andere Hälfte in Nachbarprovinzen. 2008 gab es im Vorfeld der Olympischen Spiele den letzten großen Aufstand gegen die Unterdrückung durch China.

Geschätzt 120.000 bis 150.000 Tibeter befinden sich im Exil – vor allem in Indien und Nepal. Im indischen Dharamsala, dem Wohnort des Dalai Lama, befindet sich der Sitz der Exilregierung, die 2011 die politischen Ämter des Dalai Lama übernahm. Regierungschef ist Ministerpräsident Lobsang Sangay, der von den Exiltibetern gewählt und 2016 im Amt bestätigt wurde. Regierungspartei ist die Nationale Tibetische Demokratie-Partei (NDPT). Die Verhandlungen zwischen China und Vertretern Tibets sind zum Stillstand gekommen, da die Zentralregierung Verhandlungen mit der tibetischen Exilregierung ablehnt.

Tibetisches Hochland mit verschneiten Bergen im Hintergrund. In der Mitte des Bildes ein Gespann mit Yak-Ochsen.

Noch sind viele Landschaften intakt

Quelle: SWR | Stand: 07.05.2021, 13:00 Uhr

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