Eine Ärztin spricht mit einer Patientin in einer Arztpraxis

Epilepsie

Leben mit Epilepsie

Der Großteil der Patienten kann heute sehr gut mit der Epilepsie leben. Viele sind durch die Medikamente anfallsfrei. Aktivitäten wie Autofahren, Schwimmen, Feiern und Alkoholtrinken können je nach Fall jedoch problematisch sein.

Von Katrin Ewert


Behandlung: Medikamente wirken bei den meisten Patienten

An dem Morgen, an dem Sybille Burmeister ihren ersten Anfall erlitt, ein Tag im Frühling 2006, saß die damals 35-Jährige mit einer Tasse Tee auf dem Balkon ihrer Wohnung. Ihr damaliger Freund lag im dahinter liegenden Zimmer noch im Bett und hat geschlafen.

"An diese Situation kann ich mich genau erinnern – was danach passiert ist, allerdings nicht mehr", sagt Burmeister, die als Journalistin in Ludwigshafen am Rhein arbeitet. Im nächsten Moment sei sie im Gästebett aufgewacht. "Mein Gesicht sah aus wie nach einer Prügelei", berichtet sie. Die Zunge und Wangen habe sie sich zerbissen. "Ich konnte mir nicht erklären, wie es dazu gekommen war", sagt Burmeister. "Das war sehr unheimlich."

"Der erste Anfall ist eine sehr schwierige Situation für die Betroffenen und Angehörigen", sagt Christian Bien, Chefarzt am Epilepsiezentrum Bethel in Bielefeld. "Sie sind danach zutiefst verunsichert, weil sie nicht wissen, ob und wann ein weiterer Anfall auftritt."

"Mein damaliger Freund hat mich nach dem Anfall direkt zum Arzt gebracht", berichtet Burmeister. Ihr Hausarzt überwies sie nach der Untersuchung an einen Neurologen. Dieser konnte die Diagnose Epilepsie schnell stellen: Im Elektroenzephalogramm (EEG) stellte er Muster fest, die typisch für die Erkrankung sind. Er verschrieb seiner Patientin daraufhin ein sogenanntes Antiepileptikum, ein Medikament gegen Epilepsie.

Rund 20 verschiedene Wirkstoffe sind auf dem Markt. Je nach Patient und Art der Epilepsie wählen Ärzte eins davon aus. "Etwa die Hälfte der Patienten ist durch das erste Medikament anfallsfrei", sagt Neurologe Bien. Bei weiteren 20 Prozent hilft das zweite oder dritte Medikament. Die meisten Betroffenen können die Arznei gut vertragen. Bei einigen treten Nebenwirkungen auf. Sie sind zum Beispiel müde, unkonzentriert oder reizbarer.

"Wenn ein Patient zwei bis drei verschiedene Medikamente ausprobiert hat und immer noch Anfälle erlebt, kippt das Ganze", erklärt Bernhard Steinhoff, Ärztlicher Direktor der Erwachsenenklinik am Epilepsiezentrum Kehl-Kork. "Dann ist die Wahrscheinlichkeit leider gering, anfallsfrei zu werden."

So erging es Sybille Burmeister. Das erste Medikament verursachte starke Nebenwirkungen. "Ich war in der Zeit sehr vergesslich und kann mich auch rückblickend nicht mehr an vieles erinnern", berichtet sie.

Die jetzige Medikation, eine Kombination aus zwei Wirkstoffen, verträgt sie besser. Trotzdem erlebt sie alle paar Jahre einen großen Anfall, bei der sie wie beim ersten Mal auf dem Balkon das Bewusstsein verliert und sich der ganze Körper zusammenkrampft. Mediziner sprechen dabei von einem generalisierten Anfall, bei dem das gesamte Gehirn betroffen ist.

Auch Paula Bach hat trotz der Medikamente weiterhin Anfälle – momentan mehrmals in der Woche. Die junge Frau aus Mannheim kennt die Aussetzer, seitdem sie 14 Jahre alt ist. "Oft kündigt sich der Anfall vorher an", berichtet Bach. "Mein rechter Arm kribbelt dann, als wäre er eingeschlafen." In den meisten Fällen verliert sie daraufhin das Bewusstsein und der rechte Arm bewegt sich unkontrolliert und greift zur Seite. Nach rund drei Minuten kommt sie langsam wieder zu sich.

Verschiedene Tabletten liegen auf einem weißen Untergrund

Bei Epilepsie stehen viele verschiedene Medikamente zur Verfügung

Eine Operation kommt nur bei einigen Betroffenen infrage

Bach hat sich wegen der häufigen Anfälle für einige Wochen in einer Spezial-Klinik behandeln lassen. Ein Aufenthalt in einem zertifizierten Epilepsie-Zentrum ist für Patienten sinnvoll, die trotz der Medikamente Anfälle haben.

In der Klinik prüfen die Ärzte unter anderem, welche weiteren Optionen es gibt, um die Anfälle zu mildern. Eine Operation kommt infrage, wenn nur eine bestimmte Hirnregion die Anfälle auslöst. Mediziner sprechen dabei von fokalen Anfällen.

"Bei dem Eingriff entfernen die Neurochirurgen den betreffenden Teil", sagt Epilepsie-Arzt Bien. In der Regel ist das eine sehr kleine Region im Millimeterbereich. Die Chirurgen arbeiten dabei unter einem Mikroskop.

Bei Paula Bach konnten die Ärzte die Stelle finden, die für ihre Anfälle verantwortlich ist. Um den Operationsbereich einzugrenzen, muss sie noch weitere Tests machen. "Vor der OP müssen die Ärzte zusammen mit dem Patienten Nutzen und Risiko abwägen", erklärt Bien. "Wir raten meist nur zu dem Eingriff, wenn wir sicher sind, dass dadurch kein permanenter Schaden entsteht." Im Allgemeinen sei die Operation aber sicher. Zu Komplikationen komme es nur sehr selten.

Weil sich der Eingriff nur für bestimmte Patienten eignet, führen ihn Ärzte relativ selten durch. Weniger als 1000 Epilepsie-Operationen gibt es in Deutschland pro Jahr. Für die wenigen Betroffenen lohnt sich der Eingriff jedoch. Viele haben deutlich weniger Anfälle. Die Hälfte der Patienten ist nach der OP anfallsfrei.

An einem Kopf sind mehrere Elektroden befestigt, die der Elektroenzephalografie (EEG) dienen

Die Elektroenzephalografie (EEG)-Aufnahme zeigt, ob eine OP bei dem Patienten möglich ist

Den Alltag mit Epilepsie gestalten

"Für Patienten, die trotz der Behandlung weiter Anfälle haben, ist eine Rehabilitation sehr wertvoll", sagt Bien. Aber auch für Betroffene nach dem ersten Anfall sei eine Reha hilfreich. So bekommen die Menschen schnell wieder eine Perspektive.

In der Reha-Klinik lernen die Patienten, mit der Epilepsie im Alltag besser zurecht zu kommen. In manchen Fällen raten die Mediziner den Betroffenen, eine Umschulung zu machen oder den Beruf komplett zu wechseln. LKW-Fahrer, Zugführer und Dachdecker sind zum Beispiel Arbeitsfelder, die bei Epilepsie zu gefährlich sind.

Autofahren dürfen Patienten in der Regel nur, wenn sie ein Jahr lang keinen Anfall hatten. Auch Sybille Burmeister und Paula Bach verzichten darauf. "Das ist aber nicht weiter schlimm, da ich leidenschaftlich gerne Fahrrad fahre – natürlich mit Helm", sagt Burmeister. Bach verzichtet wegen ihrer häufigen Anfälle auch auf das Fahrrad.

Schwimmen und Baden ist ebenfalls ein gefährliches Hobby, wenn weiterhin Anfälle bestehen. Die Betroffenen sollten dann nur unter Aufsicht ins Wasser. "Ich fahre nur ins Schwimmbad oder an den See, wenn gute Freunde dabei sind", erzählt Bach.

Die Patienten lernen mit der Zeit, auf bestimmte Auslöser zu achten. "Es kommt häufiger zu einem Anfall, wenn ich in der Nacht zuvor wenig geschlafen habe", berichtet Bach. In der Regel geht sie daher pünktlich zur gleichen Zeit ins Bett. Treffen mit Freunden legt sie lieber auf den Nachmittag. Auf Partys verzichtet sie für gewöhnlich. "Feiern kann ich nicht so sehr genießen, wenn ich weiß, dass ich den nächsten Tag einen Anfall deswegen bekomme", sagt Bach.

Neben Schlafentzug gibt es weitere typische Auslöser. Einige Patienten erleben einen Anfall, nachdem sie Alkohol getrunken haben. Andere reagieren auf Stress. Flackerndes Licht wie etwa in einer Disco oder bei Computerspielen löst nur bei fünf Prozent der Patienten einen Anfall aus.

Zu Beginn können diese Einschränkungen sehr hart für die Betroffenen sein. Auch die Angst vor dem nächsten Anfall belastet anfangs viele. Depressionen kommen bei Epilepsie-Patienten häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung.

In der Reha-Klinik gibt es daher auch einen psychologischen Teil, bei dem die Teilnehmer lernen, mit negativen Gedanken umzugehen. Auch den Austausch mit den anderen Betroffenen empfinden viele als hilfreich. Außerhalb der Klinik kann es sinnvoll sein, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen oder eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen.

Eine Person dreht am Lenkrad in einem Auto.

Wenn Patienten ein Jahr lang keinen Anfall hatten, ist Autofahren in der Regel möglich

Verhütung und Kinderwunsch

Frauen mit Epilepsie können in der Regel nicht mit der Antibabypille verhüten. Epilepsie-Medikamente können die Wirkung der Pille herabsetzen – und andersherum. Die Patientinnen müssen daher eine andere Verhütungsmethode wählen.

Auch der Wunsch, schwanger zu werden, ist bei den betroffenen Frauen ein sensibles Thema. "Einige Antiepileptika erhöhen das Risiko für Fehlbildungen beim Baby", sagt Steinhoff. Das Risiko für Störungen im Kindesalter wie beispielsweise Autismus sei ebenfalls erhöht.

Die Frauen müssen daher auf ein anderes Medikament umstellen, bevor sie versuchen, schwanger zu werden. Die Gefahr ist dabei, dass mit dem neuen Arzneimittel erneut Anfälle auftreten. "Das Baby ist im Mutterleib selbst bei einem großen Anfall generell gut geschützt", sagt Steinhoff. Die meisten Frauen mit Epilepsie bringen gesunde Kinder zur Welt.

Trotzdem sollten Anfälle in der Schwangerschaft so gut es geht vermieden werden, so der Mediziner. Schließlich müsse nicht nur das Baby, sondern auch die Mutter fit für die bevorstehende Herausforderung sein.

Auch werdende Väter mit Epilepsie sollten sich vor der Geburt so behandeln lassen, dass sie möglichst wenige Anfälle haben. "Am Ende liegt die Entscheidung immer bei dem Paar, das den Kinderwunsch hat. Es sollte die individuellen Risiken abwägen", sagt Steinhoff.

"Ich habe wegen der Epilepsie-Medikamente auf Kinder verzichtet", erzählt Burmeister. "Das war zwar nie ein Riesenwunsch, aber rückblickend tut es mir manchmal schon ein bisschen leid." Dabei ist sie nicht die Einzige. Laut einer Statistik, die Neurologe Steinhoff an seinem Zentrum führt, sind überdurchschnittlich viele Frauen mit der Diagnose Epilepsie kinderlos.

Eine einzelne herausgedrückte Antibaby-Pille liegt auf einem Blister

Die Antibaby-Pille wirkt zusammen mit Epilepsie-Medikamenten meist nicht

Epilepsie: Ein Schicksal, mit dem die meisten Patienten gut leben können

"Der Großteil der Patienten hat eine gute bis sehr gute Prognose", fasst Chefarzt Bien zusammen. In manchen Fällen ist die Epilepsie mit den Jahren weniger aktiv.

Wenn vier bis fünf Jahre lang kein Anfall aufgetreten ist und die Hirnströme im EEG unauffällig sind, können die Patienten das Arzneimittel testweise absetzen. Bei manchen ist kein Medikament oder nur noch eine geringere Dosis nötig. Andere benötigen ihr Leben lang Medikamente.

Und auch jene Patienten, die trotz der Behandlung weiter Anfälle haben, kommen in der Regel gut mit der Erkrankung zurecht. "Auch wenn die Epilepsie immer im Kopf präsent ist, kann ich ziemlich gut damit leben", sagt Sybille Burmeister.

In ihrer Freizeit geht sie außer dem Fahrradfahren vielen Hobbys nach. Sie trifft regelmäßig ihre Freunde, singt in einem Chor und ist Mitglied in einem Literaturkreis. Außerdem hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet und engagiert sich als Vorsitzende bei der Deutschen Epilepsievereinigung.

Auch Paula Bach geht trotz der bei ihr häufigen Anfälle ihren Weg. Sie hat Unternehmensjura studiert und saß zum Lernen oft in der Bibliothek. "Wenn ich dort einen Anfall bekommen habe, bin ich danach einfach sitzen geblieben und habe weitergemacht", sagt sie. Die Blicke der anderen seien ihr mittlerweile egal.

Es gibt auch Tage, an denen Bach nach einem Anfall erst wieder Kraft schöpfen muss. Zum Ausgleich geht sie regelmäßig im Mannheimer Luisenpark spazieren. "Wenn ich die Eichhörnchen auf den Bäumen herumhüpfen sehe, kann ich wunderbar abschalten", erzählt sie.

Auch sonst ist die junge Frau sehr selbstsicher. Sie wohnt allein und reist allein, zuletzt nach Fuerteventura. Momentan ist sie auf Jobsuche. "Ich freue mich, wenn ich mein Wissen vom Studium bald aktiv anwenden kann", sagt Bach motiviert.  

Neurologe Steinhoff kennt diesen Lebensmut von seinen eigenen Patienten. "Ja, Epilepsie ist ein Schicksal", sagt er. "Aber eines, mit dem die meisten meiner Patienten bewundernswert gut umgehen können."

Epilepsie-Patientin Paula Bach lächelt in die Kamera

Lässt sich nicht von den Anfällen unterkriegen: Paula Bach

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