Zeitschriften mit dem Titel "Der Wachturm".

Religiöse Bewegungen

Die Zeugen Jehovas

"Wir würden gerne mit Ihnen über Gott sprechen." Mit diesen Worten suchen oft die Zeugen Jehovas das Gespräch, ob in der Fußgängerzone oder an der Haustür – bibelfest, freundlich und überzeugt, den Weg zum Paradies auf Erden zu kennen.

Von Monika Sax

Der Gründer Charles T. Russell

Gründer und erster Präsident der Zeugen Jehovas war Charles T. Russell, Sohn eines Tuchwarenhändlers in Pennsylvania, USA. Seine Eltern waren Presbyterianer, also Anhänger eines Zweigs der evangelisch-reformierten Kirchen, und sie erzogen ihren Sohn in diesem Sinne.

Mit 14 Jahren wechselte er zu den Kongregationalisten, da er diese als liberaler empfand. Doch deren Vorstellung, dass den Menschen ihr Schicksal vorherbestimmt ist und dass Ungläubige im ewigen Höllenfeuer leiden müssen, konnte er nicht teilen.

So schloss er sich den Adventisten an. Diese konzentrieren sich auf die Wiederkunft von Jesus Christus. Auch für Russell blieb das Thema der Endzeit immer zentral.

Die Anfangsjahre der "Zeugen Jehovas"

1870 gründete Russell eine eigene Bibelstudiengruppe, die sich selbst die "Ernsten Bibelforscher" nannten. 1877 verkaufte er seine Anteile am Bekleidungsgeschäft seines Vaters und widmete sich ganz seiner religiösen Tätigkeit.

Für den Verkauf seiner Geschäftsanteile erhielt er eine Viertelmillion Dollar – eine immense Summe und ein gutes Startkapital für sein religiöses Unternehmen. 1879 gründete er seine erste eigene Zeitschrift: "Zion's Watch Tower and Herald of Christ's Presence", den Vorläufer des heutigen "Der Wachtturm".

Zwei Jahre später gründete er die Wachtturm-Gesellschaft, die 1884 als Aktiengesellschaft gesetzlich eingetragen wurde. Diese sollte sich um Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift kümmern.

Den Beginn der Zeugen Jehovas markiert also nicht die Gründung einer Religionsgemeinschaft, sondern die eines Unternehmens. 1931 benannten sich die "Ernsten Bibelforscher" in "Jehovas Zeugen" um. Gestützt auf Jesaja 43, Vers 10 und 11: "Ihr seid meine Zeugen […] Ich bin Jehova, und außer mir gibt es keinen Retter."

Um Produktions- und Vertriebskosten der Zeitschrift gering zu halten, gründete Russell die "Bethelfamilie", die es bis heute gibt. "Bethel" kommt aus dem Hebräischen und bedeutet "Haus Gottes". Die Zeugen Jehovas verwenden den Begriff bis heute für ihre zentralen Produktionsstätten, in denen die Schriften der Wachtturm-Gesellschaft hergestellt werden.

Die Zeitschriften "Erwachet" und "Wachturm" werden aufgefächert von einer Person gehalten.

Die Zeugen Jehovas veröffentlichen die Zeitschriften "Erwachet" und "Wachtturm"

Die dort lebenden Menschen, "gehen völlig darin auf, Gottes Willen zu tun und setzen ihre ganze Zeit für sein Königreich ein." In anderen Worten: Sie arbeiten Vollzeit für die Wachturmgesellschaft. Dafür erhalten sie freie Verpflegung und Unterkunft, plus ein kleines Taschengeld.

Auch für den Vertrieb der Zeitschrift hat Russell ein bis heute funktionierendes, sehr effektives System aufgebaut. Er rief seine Leser und Anhänger dazu auf, wenigstens die Hälfte ihrer Zeit dem Predigtdienst zu widmen und dabei die Wachtturm-Literatur zu vertreiben.

Dieser Predigtdienst ist bis heute zentraler Bestandteil im Leben der Zeugen. 1907 bezeichnete sich Russell selbst in einem Wachtturm-Artikel als "Gottes Mundstück", der die Wahrheit an die "anderen Knechte" weitergibt.

Gott als alleiniger Befehlshaber

Nachfolger von Charles Russell wurde 1917 der Anwalt Joseph Franklin Rutherford. Für ihn war Gott Jehova der alleinige Befehlshaber. Demokratische Strukturen waren damit ausgeschlossen. Er sah die Wachtturmgesellschaft als "theokratische Organisation", abgeleitet von den griechischen Worten "Theos" für Gott und "Krat(e)ía" für Herrschaft oder Regierung.

Die Hierarchie ist pyramidenförmig aufgebaut. An der Spitze steht Christus, der mittels des Heiligen Geistes die "Leitende Körperschaft" führt. Diese ist die oberste Leitungsinstanz der Zeugen Jehovas in New York City. 2023 bestand sie aus neun Männern.

Hauptquartier der Zeugen Jehovas in New York, direkt an der Brooklyn Bridge

Das Hauptquartier der Zeugen Jehovas steht direkt an der Brooklyn Bridge

Die Leitende Körperschaft besitzt die Lehrautorität, der sich alle Zeugen Jehovas unterzuordnen haben. Zu Russells Zeiten konnten die Versammlungen noch ihre Vorsitzenden wählen, die sogenannten Ältesten. Dies schaffte Rutherford ab. Seitdem setzt das jeweilige Zweigbüro alle Funktionäre ein.

Ein Heer von Verkündigern

Nach Rutherford arbeitete Nathan H. Knorr daran, die Produktion der Wachtturmprodukte zu verbessern, den Umsatz zu steigern und neue Absatzmärkte zu erschließen. Und er führte die Mitarbeiter-Schulung ein.

Die Zeugen Jehovas sollten die Literatur nicht mehr nur als einfache "Hausierer" verbreiten, sondern als eloquente Prediger. Daher entwickelten sie die "Theokratische Predigtdienstschule", bei der die Zeugen einmal wöchentlich rhetorisch geschult werden. Bis heute ist dies zentraler Bestandteil des Studiums bei den Zeugen Jehovas.

Knorr führte auch die Kreis-, Bezirks- und internationalen Kongresse ein. Unter oft mehreren tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern fühlen sich hier die Zeugen nicht als Außenseiter, sondern als Teil einer großen Masse.

Auch eine eigene Bibelübersetzung trug zu diesem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl bei: die "Neue-Welt-Übersetzung" der Heiligen Schrift. Aus ihr zitieren Zeugen bis heute.

Trotz des Widerstandes von Präsident Knorr wurde 1976 die Machtfülle des Präsidenten auf die Mitglieder der "Leitenden Körperschaft" verteilt.

2023 gab es weltweit laut eigenen Aussagen über 8,5 Millionen Zeugen Jehovas, davon rund 170.000 Zeugen in Deutschland.

Die "richtige Lesart" der Bibel

Die Zeugen Jehovas glauben, dass ihre Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift direkt von Gott Jehova kommt, dass sich die Übersetzung besonders genau an den Urtext hält und gleichzeitig in einer verständlichen Sprache geschrieben ist. Das Übersetzungskomitee wird namentlich nicht genannt, um den nach der Auffassung der Zeugen Jehovas eigentlichen Autoren der Bibel zu ehren – "Jehova Gott".

Bei der "richtigen" Interpretation der Bibel helfen Zeitschriften wie "Der Wachtturm" oder "Erwachet!", herausgegeben von der Wachtturmgesellschaft, interpretiert von der "Leitenden Körperschaft“.

"Alle Feinde Gottes werden vernichtet"

Die Zeugen Jehovas sehen Jesus als ein von Gott erschaffenes Wesen. Für sie ist er nicht Teil einer Dreieinigkeit, wie beispielsweise im christlichen Glauben. Sie glauben, dass im Gotteskrieg "Harmagedon" alle Feinde Gottes vernichtet werden. Danach beginne ein 1000-jähriges Friedensreich.

144.000 "wahre Zeugen Jehovas" sollen mit Christus im Himmel regieren, die "anderen Schafe" dürfen für immer als Untertanen des Reiches Gottes auf der dann paradiesischen Erde leben. Deswegen muss den Menschen gepredigt werden, damit sie sich den Zeugen Jehovas anschließen und so gerettet werden.

Alle jetzt lebenden Menschen, die keine Diener Gottes sind, werden nach der Vorstellung der Zeugen Jehovas in Harmagedon vernichtet – ohne Aussicht auf Auferstehung.

Auch wer aussteigt, kommt beim Harmagedon ums Leben, so die Lehre der Zeugen. Mit dieser Angst leben viele Zeugen und hält sie vom Ausstieg ab.

Die Zeugen Jehovas sagten bereits für 1914, 1925 und 1975 Harmagedon voraus – den Krieg, der das Ende der Welt einleiten sollte. Als er an den angekündigten Daten nicht eintrat, wurden von der "Leitenden Körperschaft" Erklärungen verlangt. Mit geschickter Verknüpfung von Bibelzitaten konnten viele Zeugen besänftigt werden, es gab dennoch verstärkt Austritte.

Himmel mit apokalyptischer Stimmung.

Schon 1914, 1925 und 1975 sollte das Ende der Welt kommen

Gottes Wort ist Gesetz

Für die Zeugen Jehovas gilt: Gottes Wort ist Gesetz. Und Gottes Wort wird von der "Leitenden Körperschaft" in den unterschiedlichen Wachtturmpublikationen verkündet. Viele Regeln bestimmen daher das Leben eines Zeugen: Weihnachten, Ostern, Advent, Geburtstage, Namenstage, Fasching, Muttertag, Silvester und vieles mehr sind als "heidnische Feste" verboten.

Die Zeugen Jehovas sehen die Ehe als von Gott gegeben, Untreue ist Sünde, Scheidung nur möglich, wenn der Partner untreu war. Homosexualität lehnen sie ab: "Der Standpunkt der Bibel ist ganz klar: Gott hat die Sexualität nur für die Ehe zwischen Mann und Frau gedacht. […] Wenn die Bibel 'Hurerei' verurteilt, sind damit sowohl homosexuelle als auch bestimmte heterosexuelle Handlungen gemeint", steht in einem "Wachtturm" zum Thema "Wie kann ich erklären, was die Bibel zu Homosexualität sagt?".

Der Mann ist der Vorstand der Familie, Frauen sollen "ihren Männern untertan [sein] wie dem Herrn".

Entfremdung von der Gesellschaft

Für die Zeugen Jehovas gibt es nur eine einzige Regierung: das Königreich Gottes. Zeugen Jehovas sind dazu angehalten, sich nicht an Wahlen zu beteiligen. Sie sind der Auffassung, das komme der Unterstützung einer weltlichen Regierung gleich. Und die Welt steht nach dem Glauben der Zeugen Jehovas unter dem Einfluss des Teufels. Daher ist die aktive Teilhabe am weltlichen System, sowie intensiver Kontakt mit Welt-Menschen, also Nicht-Zeugen, zu vermeiden.

Zwar werden die Zeugen Jehovas dazu aufgerufen, "Regierungen und Gewalten als Herrschern untertan und gehorsam zu sein". Allerdings nur so lange das politische Verhalten mit ihrer Interpretation der Bibel übereinstimmt. "Wir gehorchen der Regierung, weil Gott das von uns wünscht. Aber was ist, wenn wir zu etwas aufgefordert werden, was Gott verbietet? Was könnten wir dann sagen? — Wir könnten eine ähnliche Antwort geben wie die Apostel sie dem Hohen Priester gaben: Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen".

Den getauften Zeugen Jehovas ist es außerdem verboten, Bluttransfusionen anzunehmen. Dies wird als Verstoß gegen das göttliche Gebot gesehen. 1994 wurden in der Glaubenszeitschrift "Erwachet" die Fotos von 26 Kindern abgebildet, die starben, weil die Zeugen Jehovas Bluttransfusionen aufgrund ihres Glaubens ablehnen. In "Erwachet" heißt es, dass diese Kinder Gott an erste Stelle in ihrem Leben gesetzt hätten.

Austritt mit Folgen

Wenn sich Mitglieder der Zeugen Jehovas für einen Ausstieg entscheiden, hat dies weitreichende Folgen. Ausgeschlossene und freiwillig Ausgetretene werden geächtet, der Kontakt zu ihnen wird abgebrochen. Das zählt auch für engste Familienangehörigen wie Eltern, Kinder oder Geschwister.

Das Landgericht Hamburg entschied 2020, dass man Jehovas Zeugen als Bewegung bezeichnen darf, die fundamentale Menschenrechte missachten und eine "aggressive" Entfremdung von Gesellschaft und Staat praktizieren, insbesondere auch wegen der Ächtung ausgestiegener Mitglieder.

Körperschaftsstreit

Seit 2017 sind die Zeugen Jehovas nach einem langjährigen Rechtsstreit in allen deutschen Bundesländern als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt. Das bedeutet: Sie dürfen nun Kirchensteuern erheben, kirchliche Beamte beschäftigen und Stiftungen gründen. Zudem sind sie von der Pflicht zur Entrichtung von Körperschafts-, Vermögens- und Grundsteuer entbunden.

Die Zeugen Jehovas hatten im Verfahren erklärt, dass sie kein Interesse an der Kirchensteuer und am Beamtenverhältnis hätten. Ihnen gehe es vor allem um die Steuervorteile und die mit dem Status verbundene Anerkennung.

(Erstveröffentlichung 2014. Letzte Aktualisierung 22.09.2023)

Quelle: WDR

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