Lexikon-Video: Bundeswehr

neuneinhalb 06.01.2024 01:34 Min. Verfügbar bis 06.01.2029 ARD

Geschichte der Bundeswehr

Geschichte der Bundeswehr: 1962-1990

Anfang der 1960er-Jahre gewann die Bundeswehr durch die Hilfe nach Erdbeben und bei der Sturmflut in Hamburg an Ansehen. Doch dann litt das Image durch den NATO-Doppelbeschluss und die Kießling-Affäre.

Von Ingo Neumayer

1962: Sturmflut in Hamburg

Am 15. und 16. Februar 1962 traf eine verheerende Sturmflut die deutsche Nordseeküste und sorgte auch an Elbe und Weser für schwere Überschwemmungen. In den Großstädten Bremen und Hamburg brachen Deiche, Häuser wurden unterspült, Versorgung und Infrastruktur brachen zusammen.

Der Hamburger Polizeisenator Helmut Schmidt erkannte den Ernst der Lage und löste den Mangel an professionellen Helfern mit ungewöhnlichen Mitteln.

Da er bis kurz vor der Katastrophe als Abgeordneter im Europaparlament sowie im Bundestag gesessen hatte, verfügte er über ausgezeichnete Kontakte zu den obersten Militärs in Deutschland und Europa. Kurzerhand forderte er Streitkräfte von NATO und Bundeswehr an, die Hilfsgüter lieferten, Deiche sicherten und mit Hubschraubern und Sturmbooten Menschen vor den drohenden Fluten retteten.

Etwa 40.000 Soldaten waren tagelang ohne Unterbrechung im Einsatz und retteten mehr als 1000 Menschen aus lebensgefährlichen Situationen. Dabei verloren neun Soldaten ihr Leben.

Der Bundeswehr brachte die Hilfsaktion viele Sympathien in der Bevölkerung ein. Die Akzeptanzwerte, die bei der Gründung der Armee noch relativ niedrig gewesen waren, stiegen nach der Sturmflut stark an. Dabei hatte Helmut Schmidt gegen geltendes Recht verstoßen, als er die Bundeswehrsoldaten anforderte. Denn der Einsatz der Bundeswehr im Inland war 1962 im Grundgesetz ausdrücklich untersagt.

Schmidts eigenmächtiges Handeln wurde jedoch von allen Seiten begrüßt und führte schließlich zu einer Grundgesetzänderung, die 1968 in Kraft trat. Bei Katastrophen im Inland darf seitdem die Bundeswehr tätig werden – allerdings nur mit nicht-militärischen Mitteln.

Mann rettet Mädchen vor Überschwemmung

Sturmflut 1962: Viele Menschen können gerettet werden

Ab 1965: Kriegsdienstverweigerung nimmt zu

Im Grundgesetz wurde 1949 festgelegt: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Doch die Praxis sah lange anders aus. Wer den Kriegsdienst verweigerte und stattdessen einen Ersatzdienst leistete, galt als Drückeberger und handelte sich mitunter sogar Probleme mit Arbeitgebern oder Vermietern ein.

In den ersten zehn Jahren der Bundeswehr wurden im Schnitt nur 3300 Verweigerungsanträge pro Jahr gestellt. Der Antrag musste schriftlich gestellt und vor einem Ausschuss mündlich begründet werden, vor dem man die sogenannte Gewissensprüfung ablegte.

Ab 1965 nahm die Zahl der Verweigerer zu. 1967 waren es mehr als 6000, 1968 bereits fast 12.000. Die Studentenbewegung und der Vietnam-Krieg änderten die Einstellung vieler junger Männer.

Pazifistische Strömungen breiteten sich aus, die sowohl im christlichen, wie auch im politisch linken Denken ihren Ursprung hatten. Die oft schwierige familiäre Aufarbeitung der NS-Vergangenheit führte dazu, dass sich viele Jugendliche und junge Erwachsene von ihren Eltern und auch von ihrem Heimatland distanzierten.

Der Trend zum Zivildienst hielt über die Jahre an. Als es nach einer Gesetzesänderung 1977 für kurze Zeit möglich war, per Postkarte zu verweigern, kam es zu einer spürbaren Steigerung.

Auch politische Krisen wie etwa der Golfkrieg 1991 machten sich sofort bemerkbar. In jenem Jahr wurden mehr als 150.000 Anträge gestellt – fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Insgesamt entschieden sich bis 2011 fast drei Millionen junge Männer für den Zivildienst.

Zivildienstleistender mit gehbehinderten Mann

Zivildienstleistender (rechts) in den 1970er-Jahren

Seit 1975: Frauen beim Bund

Das Grundgesetz verbot Frauen ausdrücklich den Dienst an der Waffe und somit den Eintritt in die Streitkräfte. Diese Regelung änderte sich 1975. Die sozialliberale Regierung bestimmte, dass Ärztinnen als Sanitätsoffiziere arbeiten durften.

Als Sanitäter oder Sanitäterin einer Armee besitzt man keinen Kombattantenstatus, das heißt, man darf weder kämpfen noch angegriffen werden. Um sich im Falle eines widerrechtlichen Angriffes selbst verteidigen zu können, wurden die Medizinerinnen jedoch im Umgang mit Waffen geschult.

Am 1. Oktober 1975 traten die ersten weiblichen Sanitätsoffiziere ihren Dienst an. Auch der Militärmusikdienst öffnete sich für Frauen. Die normale Soldatenlaufbahn blieb ihnen allerdings weiterhin verwehrt.

Das änderte sich erst im Jahr 2000, als der Europäische Gerichtshof entschied, das deutsche Soldatengesetz verstoße gegen die Gleichheitsgrundsätze von Mann und Frau. Ein Jahr später ließ die Bundeswehr Frauen in sämtlichen Bereichen zu, von der Wehrpflicht blieben sie allerdings weiter ausgeschlossen.

Ende 2017 dienten mehr als 21.000 Frauen bei der Bundeswehr, das entsprach einem Anteil von 12 Prozent. Der Großteil von ihnen war im Sanitätsdienst tätig.

Frauen haben bei der Bundeswehr die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer. Sie werden gleich ausgebildet, gleich bewertet und gleich bezahlt.

Akzeptanzprobleme in der ehemaligen Männerdomäne soll es nach Angaben der Bundeswehr nicht geben. Im Gegenteil: Die weiblichen Soldaten sollen sich positiv auf das Klima innerhalb der Bundeswehr ausgewirkt haben. Der Ton sei freundlicher geworden, so der Tenor bei den männlichen Soldaten.

Bundeswehrsoldatin mit langem, blonden Zopf steht inmitten ihrer männlichen Kameraden

Lange Zeit undenkbar: Frauen beim Militär

1979: Der NATO-Doppelbeschluss

Ab Mitte der 1970er-Jahre richtete die Sowjetunion Mittelstreckenwaffen mit atomaren Sprengköpfen gegen die Länder Mitteleuropas. Die NATO reagierte darauf 1979 mit dem "Doppelbeschluss". Sie forderte die Sowjetunion zu Abrüstungsverhandlungen auf, andernfalls werde man Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing-II sowie Marschflugkörper mit Ziel Sowjetunion in Mitteleuropa aufstellen.

Die Angst vor einem Atomkrieg wuchs bei vielen Deutschen, die Friedensbewegung fand großen Zulauf.

Doch die Abrüstungsverhandlungen scheiterten, und als Folge beschloss der Bundestag die angekündigte Aufstellung der NATO-Raketen. Eine riesige Protestbewegung entstand, es kam zu Demonstrationen mit mehr als 100.000 Teilnehmern, auf denen die Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt kritisiert und lauthals Abrüstung und Frieden gefordert wurden.

Auch das Ansehen der Bundeswehr litt in dieser Phase. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer nahm weiter zu, Intellektuelle kritisierten die NATO-Politik. So erklärte Günter Grass den Wehrdienst aufgrund der Raketenstationierung für "verfassungswidrig" und rief zur "Wehrkraftzersetzung" auf.

Auch innerhalb der Truppe hatten die Diskussionen Folgen. Viele Soldaten zweifelten am Sinn und Zweck ihrer Arbeit. Erst als Michail Gorbatschow sowjetischer Regierungschef wurde und eine neue Politik einläutete, entspannte sich die Lage. Ende 1987 einigten sich die USA und die Sowjetunion schließlich auf einen Abbau aller Mittelstreckenwaffen in Europa.

Demonstration

Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss

1984: Die Kießling-Affäre

1983 kamen in NATO-Kreisen Gerüchte auf, der Vier-Sterne-General und stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber Günter Kießling sei homosexuell. Die Bundeswehr ermittelte, da ein homosexueller General als erpressbar und somit als Sicherheitsrisiko galt.

In Kölner Szenekneipen wollten Gäste Kießling wiedererkannt haben, ein Wirt erinnerte sich an einen "Jürgen oder Günter von der Bundeswehr". Den Ermittlern reichten die dünnen Aussagen als Beweis.

Verteidigungsminister Manfred Wörner zitierte Kießling im September zu sich, dieser stritt die Vorwürfe ab. Wenig später einigten sie sich darauf, Kießlings ohnehin geplanten Abschied auf den März 1984 vorzuverlegen, bis dahin solle der General sich krankmelden.

Doch der Militärische Abschirmdienst (MAD) ermittelte weiter und präsentierte einen weiteren Zeugen für Kießlings vermeintliche Homosexualität. Darauf entließ Wörner Kießling zum Jahresende. Eine Möglichkeit, sich zur Sache zu äußern, wurde dem General genauso verwehrt wie der sonst übliche Große Zapfenstreich zur Verabschiedung.

Anfang 1984 wurden die Umstände von Kießlings Entlassung publik, die Medien recherchierten und fanden schnell viele Ungereimtheiten. So entpuppte sich "Günter" doch als ein "Jürgen", der dem General etwas ähnlich sah.

Als sich immer mehr Medien, Geheimdienste, Bundeswehrgeneräle und Teile der Öffentlichkeit über Wörners Vorgehen empörten, sprach Bundeskanzler Helmut Kohl ein Machtwort. Kießling wurde wieder in den Dienst gesetzt. Wörner und der Bundeswehr blieb die Blamage.

General Günter Kießling und Minister Manfred Wörner

General Günter Kießling und Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner (rechts)

(Erstveröffentlichung 2014. Letzte Aktualisierung 03.07.2019)

Quelle: WDR

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