Löffel und Glas mit Joghurt.

Lebensmittel

Probiotika

"Stärken Sie Ihre natürlichen Abwehrkräfte!" So oder ähnlich preisen Lebensmittel-Hersteller ihre probiotischen Joghurts und Fitnessdrinks an. Doch Wissenschaftler bezweifeln, dass die Produkte das Versprechen aus der Werbung halten.

Von Melanie Jost und Franziska Badenschier

Probiotika sind im Trend

Probiotika sind "lebende Mikroorganismen, die dem Wirtsorganismus einen Vorteil für die Gesundheit bringen, wenn sie in ausreichender Menge verabreicht werden". So lautet die offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Weniger kompliziert klingt die Übersetzung des Begriffs, der sich aus den griechischen Wörtern pro und bios ableitet, nämlich schlicht: für das Leben.

Und richtig modern klingt die Bezeichnung "functional food". Diese "Nahrungsmittel mit Funktion" sollen nicht nur lecker schmecken und sättigen, sondern auch gesünder machen.

Probiotika sind Verkaufsschlager

Der russische Bakteriologe Ilja Metschnikoff stellte Anfang des 20. Jahrhunderts fest, dass die im Joghurt enthaltenen Milchsäurebakterien die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers stärken und krankheitserregende Keime im Darm bekämpfen.

Für diese Erkenntnis erhielt er 1908 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin. Bulgarische Bauern hatten ihn auf den Zusammenhang aufmerksam gemacht: Die Bulgaren wurden überdurchschnittlich alt – und auf dem Balkan war es Tradition, täglich viel Joghurt zu löffeln.

Heute sieht man in deutschen Supermärkten meterlange Regale voller Joghurt: 1995 tauchten die ersten probiotischen Joghurts auf. Drei Jahre später hatte bereits jeder fünfte Haushalt in der Bundesrepublik die neuen Joghurts probiert.

Zwischen 1996 und 2004 stieg der Umsatz mit probiotischen Milchfrischerzeugnissen von 75 Millionen auf 485 Millionen Euro – das errechnete die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK).

2009 soll allein der "Actimel"-Joghurt dem Hersteller Danone weltweit rund 1,2 Milliarden Euro Umsatz beschert haben. Das Schwesterprodukt "Activia" soll 2,6 Milliarden Euro weltweiten Umsatz gebracht haben und das Joghurtgetränk "Danacol" noch einmal eine Milliarde Euro.

Das berichtete das Branchenblatt "Lebensmittel Zeitung". Doch nicht jeder glaubt, dass die Joghurtbecher ihren Preis wert sind.

Wie robust sind die lebenden Mikroorganismen?

Die erste Hürde, die die nützlichen Bakterien überwinden müssen: Sie müssen im Joghurtbecher überleben, damit sie überhaupt lebend verzehrt werden können. Tests ergaben, dass einige probiotische Joghurts umso weniger Keime enthielten, je näher man dem Mindesthaltbarkeitsdatum kam.

Ein Grund dafür sind Temperaturschwankungen: Wenn die Lagertemperaturen zu hoch sind, vermehren sich die Bakterien zunächst sehr stark, im kalten Kühlschrank sterben sie schließlich umso schneller ab.

Die zweite Hürde: Um tatsächlich einen positiven Effekt im menschlichen Darm zu erzielen, müssen die probiotischen Bakterien aus dem Joghurt den Darm erreichen. Das ist schwierig: Von den herkömmlichen Milchsäurebakterien-Stämmen überleben die Reise durch den Magen-Darm-Trakt entweder gar keine Bakterien oder nur sehr wenige.

Daraufhin züchtete die Lebensmittelindustrie besonders robuste Bakterienstämme, die bessere Chancen haben, lebend im Dickdarm anzukommen. In den meisten Fällen sind das Bifidobacterium- und Lactobacillus-Stämme: menschliche Darmbakterien, die künstlich vermehrt und dem Joghurt zugesetzt werden.

Zwischen zehn und 40 Prozent der Mikroorganismen würden lebend in den Dickdarm gelangen, sagen Hersteller probiotischer Produkte, und zwar, weil sie vom Immunsystem wie körpereigene Bakterien behandelt würden.

Probiotika – Bakterien mit viel Konkurrenz

Die dritte Hürde: Die probiotischen Keime stoßen im Darm auf 400 bis 600 verschiedene Bakterienarten, die dort von Natur aus in großer Anzahl leben. Um diese zu übertrumpfen, müssen die probiotischen Mikroorganismen also in sehr großen Mengen verzehrt werden: Etwa 100 Millionen Mikroorganismen pro Tag sollten es sein.

Wie viele Bakterien in den probiotischen Joghurts sind, steht nicht auf der Packung. Die Hersteller empfehlen lediglich, eine Portion pro Tag zu essen. Die kann auch durchaus ausreichen, um auf die 100 Millionen probiotischen Bakterien zu kommen.

Unter dem Mikroskop leuchten die Milchsäurebakterien grell grün.

Milchsäurebakterien unter dem Mikroskop

Was leisten probiotische Milchprodukte?

Die Werbung spricht den probiotischen Lebensmitteln ein breites Spektrum an gesundheitsfördernden Effekten zu. Als wissenschaftlich gesichert gilt nur: Bestimmte Milchsäurebakterien verkürzen bei einer Durchfallerkrankung die Dauer der Erkrankung um durchschnittlich einen Tag.

Kinder mit länger als zwei Wochen dauerndem Durchfall werden mit Probiotika einige Tage früher wieder gesund als ohne Probiotika. Zudem wird die Konzentration gesundheitsschädlicher Stoffwechselprodukte gesenkt und die Milchzuckerverdauung begünstigt. Mögliche Effekte sind auch weniger Allergien, ein niedrigerer Cholesterinspiegel.

Für alle positiven Effekte jedoch gilt: Es besteht keinerlei Sicherheit, dass sie bei allen Menschen auftreten, weil ihre Wirkung von zahlreichen, individuell unterschiedlichen Faktoren abhängt. Und: In jedem Fall können probiotische Lebensmittel nur dann wirksam sein, wenn sie regelmäßig verzehrt werden, denn probiotische Bakterien siedeln sich nicht im Darm an, sondern müssen täglich neu zugeführt werden.

(Erstveröffentlichung 2002. Letzte Aktualisierung 31.10.2019)

Quelle: WDR

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