Symbolfoto: Schreiben mit einem Füller

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Erfindung der Schrift

Seit 5000 bis 6000 Jahren gibt es die Schrift. Vorformen entwickelten sich sogar viel früher – seit der Mensch sich Materialien zunutze macht, mit denen er malen, gravieren, ritzen, stempeln und schreiben kann.

Von Gregor Delvaux de Fenffe

Kann ich das schriftlich haben?

Über Jahrmillionen entwickelte der Mensch sprachliches Ausdrucksvermögen. Mit der verbalen Kommunikation und der mündlichen Überlieferung von Erinnerungen und Wissen konnte er seine Welt strukturieren.

Die Lebensumstände wurden aber komplexer. Besitzverhältnisse und Verwaltungsorganisation ließen sich nicht mehr mündlich kommunizieren und allein aus dem Gedächtnis und der Erinnerung heraus rekonstruieren. Deshalb begann der Mensch Buch zu führen, Notizen abzufassen, die als Gedächtnisstütze dienten und Ansprüche besser regeln halfen.

Die ersten großflächigen Bilder des Menschen, von denen wir wissen, sind prähistorische Höhlenmalereien. Es ist unwahrscheinlich, dass ausschließlich ästhetische oder kultische Gründe eine Rolle bei der Entstehung der kunstfertigen Abbildungen gespielt haben. Es ist durchaus denkbar, dass die Malereien Besitzstände und Machtverhältnisse ihrer Zeit widerspiegeln.

Die Schrift wurde also erfunden, um Macht und Besitz zu organisieren und zu wahren, also quasi aus rechnerisch-buchhalterischen Überlegungen heraus. Das belegen die Anfänge der Schrift in Mesopotamien (dem heutigen Irak). Dort beginnt die Geschichte der Schrift mit Aufstellungen über Ein- und Ausgaben, die im Laufe der Zeit bedeutend und komplex geworden waren. Ihre schriftliche Fixierung half, Interessen auseinanderzuhalten und Rechtsstreitigkeiten vorzubeugen.

Höhlenmalerei

Auch hier geht es möglicherweise schon um Besitzverhältnisse

Vom Bildzeichen zur Hieroglyphe

Noch herrschten schwerfällige Bilderschriften vor, als vor 5000 Jahren in Ägypten die ältesten Hieroglyphen entstanden und in den sumerischen Kulturen (Sumerer, Akkader, Babylonier, Assyrer) die ersten Keilschrifttäfelchen. Doch zunehmend wurde eine raschere Form des Schreibens benötigt, und dafür benutzte man Zeichen mit einer lautlichen Zuordnung, das heißt: ein Zeichen entsprach einem Laut.

Es entstanden stilisierte, abstraktere Zeichen, die Schrift wurde komplexer, aber auch genauer. In Ägypten erfuhren die Hieroglyphen (griechisch: "heilige Einmeißelungen") eine Verknüpfung mit Lauten.

Das daraus entstandene, komplizierte Schriftsystem war so erfolgreich, dass es 3000 Jahre unverändert bestehen blieb. Eine Hieroglyphe konnte dabei ein ganzes Wort oder auch nur einen einzelnen Laut symbolisieren. Einige der Hieroglyphen sind daher den Buchstaben der Alphabet-Schriften vergleichbar.

Als eine alternative Schriftform zu der sehr umständlichen und zeitraubenden Hieroglyphenerstellung entwickelte sich in Ägypten die hieratische Schrift, eine Kursivschrift, die ab dem zweiten Jahrtausend vor Christus mit dem Pinsel auf Papyrus aufgetragen wurde. Ab dem 7. Jahrhundert vor Christus tauchte in Ägypten eine weitere Schriftvariante auf: die demotische Schrift, die als Dialekt Unterägyptens auch eine eigene Sprachform darstellte.

Altägytische Hieroglyphen

Altägyptische Hieroglyphen

Das Keilzeichen und die Abstraktion der Schrift

Besonders gut lässt sich die Abstrahierung der Schriftentwicklung im Lauf der Jahrhunderte auf den Keilschrifttontafeln der Sumerer nachvollziehen: Während die ersten Täfelchen noch erkennbar bildliche Figuren und Zeichen aufwiesen, wurden sie im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung von immer abstrakteren Keilzeichen verdrängt, bis sie in der Zeit des assyrischen Großreichs im ersten Jahrtausend vor Christus kaum mehr Ähnlichkeit mit ihren bildlichen Vorläufern besaßen.

Die sumerische Schriftkultur stand in erster Linie der Tempelverwaltung zur Verfügung, die Keilschrifttäfelchen zum Beispiel für die Erhebung von Steuern, Ernteabgaben und Tempelquittungen nutzte.

Bekam etwa ein Bauer in der Blütezeit der sumerischen Hochkultur ein Täfelchen mit eingeritzten Umrissen eines Dreschflegels sowie verschiedenen Zahlzeichen zugestellt, bedeutete das eine Art Steuerbescheid. Der Bauer hatte dem Tempel oder König entsprechende Abgaben zu entrichten.

Die Keilschriftzeichen wurden damals üblicherweise mit einem Schilfrohr- oder Holzgriffel in Tontäfelchen geritzt. Viele der Täfelchen, die nach dem Schreibakt gebrannt und dadurch haltbar gemacht wurden, sind bis heute erhalten geblieben und bei Ausgrabungen entdeckt worden.

Sumerische Keilschrift

Sumerische Keilschrift

Rätselhaft: Der Diskus von Phaistos

Wer zu damaligen Zeiten schreiben konnte, war ein gemachter Mann. Die Schreiber bildeten in Mesopotamien und Ägypten einen hoch angesehenen, privilegierten Stand und verfügten über ein reiches Auskommen. Denn die wenigsten Menschen konnten damals schreiben. In Ägypten bildete eine Anstellung als Schreiber die Ausgangsposition für jede Beamtenkarriere.

Nicht geritzt, sondern gestempelt wurden die geheimnisvollen Schriftzeichen auf dem Diskus von Phaistos – einer doppelseitig beschriebenen runden Tonscheibe, die im Jahr 1908 auf dem Gelände des minoischen Palastbezirks von Phaistos auf Kreta ausgegraben wurde. Bis zum heutigen Tag ist eine Entzifferung des Diskus nicht gelungen, dessen Alter auf 3500 Jahre geschätzt wird.

Eine Tonscheibe mit vielen Hieroglyphen in spiralförmiger Anordnung

Rätselhaft: der Diskus von Phaistos

Erfindung und Verbreitung des Alphabets

Im Jahr 1500 vor Christus kam es in Ugarit an der syrischen Küste zu einer Verschmelzung mehrerer regionaler Schriftarten, die zu einer Revolution innerhalb der Entwicklung der Schrift führte: die Erfindung des Alphabets. Man geht davon aus, dass das ugaritische Alphabet der Vorgänger des phönizischen und damit der europäischen Alphabete war. Die arabischen, hebräischen, griechischen, lateinischen und kyrillischen Schriftsätze sind weiterentwickelte und in die jeweilige Kultur übertragene Alphabetschriften.

Die Phönizier sorgten für die Verbreitung des Alphabets. Sie waren ein Volk von Seefahrern, die im Gebiet des heutigen Syriens und Libanons siedelten. Sie kannten ein aus 22 Zeichen bestehendes Alphabet, in dem allerdings keine Vokale vorkamen. Die Phönizier zerlegten also ihre Sprache in Laute, die sie mit genau zugeordneten Lautzeichen, Buchstaben verschriftlichten und beim Lesen in den Laut zurückverwandeln konnten.

Die Erfindung des Alphabets beruht auf der Erkenntnis, dass die Sprache ein System aus nur wenigen Lauten darstellt, die aber in immer neuen Kombinationen die vollständige Fülle eines sprachlichen Wortschatzes wiedergeben können. Mit nur 26 Buchstaben lassen sich etwa alle Wörter der deutschen Sprache niederschreiben.

Damit sie sich die Zeichen des Alphabets besser merken konnten, gaben die Phönizier den Buchstaben eine Reihenfolge. Die ersten beiden Buchstaben des ABC gaben dem System "Alphabet" seinen Namen. "Aleph" (griechisch: alpha) bedeutete im Phönizischen "Rind", "beth" (griechisch: beta) bedeutete "Haus".

Setzkasten mit großen Bleilettern

Mit wenigen Buchstaben lässt sich alles schreiben

Durch die Kontakte ihres weitreichenden Handelsnetzes beeinflussten die Phönizier mit ihrem Schriftgebrauch bald auch ihre Handelspartner. Die Alphabetschriften begannen sich in Europa zu verbreiten. Um 800 vor Christus übernahmen die Griechen das Alphabet-System und ergänzten es mit Vokalzeichen. Das griechische Alphabet wurde zum Vorbild des lateinischen Alphabets, das wir heute benutzen.

Wortzeichen-Schriften in Asien

Beherrscht der Mensch erst einmal das komplexe System einer Alphabetsprache, ist er nicht länger auf die enorme Gedächtnisleistung angewiesen, die er aufbringen muss, wenn er etwa gut 800 Keilschriftzeichen oder viele Tausend chinesische Schriftzeichen auswendig lernen muss. Denn im Gegensatz zu den Alphabet-Schriften sind etwa die chinesischen und die japanischen Schriften Zeichen-Schriften, bei der die Abstraktion vom Zeichen zum Laut nicht weiter stattgefunden hat und weiterhin jedem Wort ein eigenständiges Zeichen zugeordnet wird.

In China herrschte die Idee einer Verständigung, die über die Grenzen der eigenen Sprache hinausging. Wenn zwei Chinesen nicht die gleiche Sprache sprachen – etwa einer Mandarin und einer Kantonesisch – sollten sie trotzdem über den Austausch von Schriftzeichen kommunizieren können. Tatsächlich gelang es in China, die verschiedenen chinesischen Sprachgemeinschaften durch eine große Schriftvereinheitlichung im Jahr 200 vor Christus miteinander zu verbinden und auf diese Weise eine relative Geschlossenheit des chinesischen Kulturraums zu fördern.

Die chinesische Schrift hat andere ostasiatische Völker stark beeinflusst. Sie reicht Belegen zufolge mehr als 3000 Jahre zurück. Die ältesten chinesischen Schriftzeugnisse sind in Rinderknochen (sogenannte Orakelknochen) geritzte Bildzeichen und stammen aus der Zeit um 1400 vor Christus.

Japanische Schriftzeichen.

Japanische Schriftzeichen

Quelle: SWR | Stand: 12.06.2020, 11:15 Uhr

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